vice magazin, 2011-2015

(meine) plattenreviews für’s deutschsprachige vice, von 2011 bis 2015.
jeweils: titel, punktzahl, label, text, "autor"-pseudonym.
unsortiert bzw. in damaliger veröffentlichungsreihenfolge.
hintergrund/intro/meta im blog.

2011-05

O’DEATH - Outside (5)
Cityslang
Das Folkrevival täuscht mit Namen und Düstercover noch drüber weg, dass es mittlerweile bei Blechbläsern und Irish-Pub-Atmosphäre angekommen ist. Das könnte man zwar sogar ganz gut finden, vor allem wenn stellenweise der Pathos durchkommt („Alamar“) und man sowas wie The Strawbs mag, aber insgesamt überwiegen die Knödelstimme und das „Banjo im Sonnenuntergang“-Gefühl dann leider doch.
CHARLIE „MANSON“ BROWN

ANDREAS DORAU - Todesmelodien (4)
Staatsakt / Rough Trade
Der „Kinderreime so rüberbringen, als wären es total ironisch handgeklöppelte Texte“-Award geht in diesem Jahr an Andreas „Milchbrötchen“ Dorau, zusammen mit der „Preset-Sounds so klingen lassen, als wären es echte Synthies“-Ehrenmedaille. Immerhin: das eine oder andere Mal ist ein origineller Reim dabei (Herz / Schmerz!), und „Größenwahn“ ist auch ein Knaller. Den man aber eigentlich nicht unbedingt auf Albenlänge hätte strecken müssen. Vielleicht bin ich aber auch nur zu alt für sowas.
FRED VOM JUPITER

ESMERINE - La Lechuza (5)
Constellation / Southern
Bei Constellation denkt man ja meist zuerst mal an epischen Postrock mit 12minütigen Instrumentalsongs. Wenn man sich jetzt hier den penetranten Xylophoneinsatz wegdenkt und das fragile Singstimmchen sowie die gebrochene-Herzen-Grundstimmung (und dann noch die Songs auf höchstens die halbe Länge runterkürzt), – dann ist man an diesem Bild schon wieder recht nah dran. Der Einsatz ordentlich bassiger Streichinstrumente kann nur begrüßt werden, aber schlußendlich ist's dann leider doch nur eine Platte für Leute, die Bonnie Prince Billy oder Sarah McLachlan mögen. Vielleicht klingt ja Postrock für kleine herzgebrochene Mädchen so: fluffig.
NINO DE ANGELO BADALAMENTI

TANNHÄUSER STERBEN & DAS TOD - Eigengift (8)
Altin Village & Mine Records / Cargo
Pluspunkte schonmal vorab für den Projektnamen. Bonus dafür, daß sich auch 2011 noch jemand traut, eigentlich simplen Quatsch auf einem Tonträger zu veröffentlichen: Cutups, verstimmte Gitarren, Mantrageschrei, und trotzdem meistens sowas wie eine Song-Komposition dahinter. Kunststudenten-Drogenrausch von der nicht mal unoriginellen Sorte, als hätte da jemand die frühen Demos von MIT mehrfach kreuz und quer remixen lassen und dann rückwärts abgespielt. Freestyle in der lässigen Version – eigenartig sonderbar, also irgendwie schon super.
RICHIE 666 WAGNER

2011-06

CHAD VALLEY - Equatorial Ultravox (4)
Loose Lips Records / Coöperative Music
Im Begleitschreiben wird der Begriff „balearic“ verwendet, und auch auf der Platte wird ordentlich viel zu WahWah-Elektronik in den Vocoder gejault. Als würde Nick Kamen auf LSD 80er-Jahre-Fahrstulmuzak produzieren wollen. Heidewitzka. Stellenweise läßt sich ein gewisses Verwandtschaftsbedürfnis zur „Bilingual“-Phase der Pet Shop Boys erahnen, aber an deren musikalischen Kulissenschieberei-Größenwahn kommen weder Chad noch Valley heran.
VEGANA BONITA

FIGURINES - Figurines (7)
Cargo Records
„Selbstbetitelt“ ist ja auch so ein Begriff, der eigentlich völlig stulle ist. Die Figurines-Platte ohne expliziten Namen jedenfalls ist die erste neue nach vier Jahren und band-internem Hickhack. Klingt: angenehm sperrig beim ersten Hören, originell beachboysig beim zweiten und dann weiterhin erstaunlich retro bei allen weiteren Durchgängen. Da fehlt dann insgesamt zwar ein bißchen Originalität für’s ganz große Geflashtsein, aber: gut durchhörbare Platten, die „nett“ sind im Sinne von „nett“, gibt’s auch viel zu wenige. Geht schon in Ordnung. Wenn’s bei der Sinnsuche hilft.
BRIAN WÜLSON

GOMEZ - Whatever’s On Your Mind (2)
Eat Sleep Records / Rough Trade
Penetrant fröhliche Menschen machen Konsensmusik ohne nennenswertes Überraschungspotential. Mit Saxophon. Und Streichern. („Meinten Sie: SWR3-NewPop-Festival?“) Zum Abschluss noch das Killer-Argument: sowas kann Robbie Williams echt besser.
GARGAMEL MANSON

THE SORRY ENTERTAINERS - Local Jet Set (5)
Shitkatapult
Vor ein paar Jahren noch chillte man out zu Ambient-Kram mit einem Schuß IDM (Genre-Kürzel „Mathematiker tanzen nicht“) – heutzutage macht man das offenbar zu diesem Sound von Berlin-Mitte-Strandbars, der ja auch nur eine verhipsterte Version des Café del Mar -Krempels ist. Irgendwie Dub, aber nicht so richtig, irgendwie Kiffermusik, aber nicht so völlig, irgendwie unauffällig, aber über Kopfhörer dann total ironisch. Die Hammond-Orgel des Chillout (lies: Blechbläser-CutUp-Samples!). Beim Hören der Platte kann man das bunte Schirmchen im alkoholreduzierten Cocktail, überreicht vom feinrippunterhemdchentragenden „Barkeeper“, vor seinem geistigen Auge sehen. Aber: es gibt auch schlimmere Spätsommer-Abendgestaltungen, klar.
FRANZ LAMBERT

BRIAN ENO - Drums Between The Bells (8)
Warp / Rough Trade
Brian Eno hat Ambient erfunden, als wir gerade geboren wurden, sagen Wikipedia und mein von Musik Ahnung habender Freundeskreis. Endlich weiß ich, wieso John Duncan und Asmus Tietchens so klingen, wie sie klingen. Mal abgesehen davon: 16 Tracks, einer eigenartiger als der andere, irgendwo zwischen Raster-Noton und Psychic TV, was das Klangreferenz-Namedropping angeht, und einer eigenständiger als der andere, als könnte man aus den hier versammelten Ideen und Ansätzen 16 neue Alben klöppeln. Eher schwierig am Stück durchzuhören, aber mindestens abendfüllend, wenn man sich damit richtig beschäftigen möchte.
ANDREW VAN WYNGARDEN

2011-07

ANTONIONIAN - Antonionian (3)
Anticon / Alive
Bandnamen-Schreibfehler schon in der fetten Headline des Pressewaschzettels sind ja eher selten vorn dabei, wenn’s um gute Vorahnungen geht. Und dann klingt das Ding auch noch ganz genau so verwirrt: stellenweise Frickel, stellenweise 70s-Beat, stellenweise Animal-Collective-Wannabe. Aber alles dann auch wieder zu nullbockig inszeniert, zu ungeil, zu absichtslos: nix halbes, nix ganzes, also eher noch was halbes allerhöchstens. Ich werd’ daraus nicht schlau. Und normalerweise werd’ ich schon ganz gern schlau aus Platten.
MICHÉLE JACKSON

BLANCK MASS - Blanck Mass (8)
Rock Action / PIAS
Mischung aus Autechres „Amber“ und Shines „In The Centre“. Genau so sollte bitte ein Sommer klingen: pluckerig blubbernd zurückhaltend elektronisch, irgendwo genau zwischen Party und Afterhour. Nach unkitschigem Sonnenaufgang für Angeschickerte, nach Ambient für Glückliche, nach Slow-Motion für Verknallte. Da ist’s dann auch egal, daß Tracks „Chernobyl“ oder „Fuckers“ heißen, diese Platte ist Optimismus-ScienceFiction für Nerdromantiker. Mit großen Gesten, mit einem Anflug von Pathos, mit ganz dezenter Melancholie. Wird leider völlig untergehen, weil die Zielgruppe für sowas nahezu ausgestorben ist, aber sag’ nachher nicht, wir hätten’s dir nicht gesagt!
TRI RE PETER

GARDENS & VILLA - Gardens & Villa (5)
Secretly Canadian / Cargo
Angenehm harmloser Surf/Funk/Dings-Pop, immerhin. Leider aber auch angenehm harmloser Surf/Funk/Dings-Pop, nur. Das machen The Drums schlimmer, weil kitschiger, das klingt bei Gardens & Villa (Wer denkt sich heutzutage eigentlich solche Quatschnamen aus? Was ist aus dem guten „The ..“ geworden?) erwachsener, weil lässiger. Mir fehlt noch irgendwie das angemessene Setting, um diese Musik hören zu wollen, aber dafür kann ja auch nur der Sommer was.
THONY JOHNSON

MACHINEDRUM - Room(s) (6)
Planet Mu / Dense
Ganz egal, wie man dieses Genre heutzutage so nennt – ich mag ja dieses dubbige, wenn eine Platte so anfängt wie die Smoker’s Delight von Nightmares on Wax. Vinylknistersample, Bass, CutUp-Vocals, Loops, fertig ist Abendplanung mit Draußenrumsitzen und Debilgrinsen. Bei Room(s) ist dann zwar irgendwo auf Gesamtlänge zu oft Drum’n’Bass-Hektik druntergeschwurbelt, die wird aber durch einigermaßen entspannten weil hoffentlich ironischen Autotune-Einsatz wieder ausgeglichen. Nur diese Stimme, die in jedem zweiten Track „Planet Mu“ sagt, versteh’ ich echt auf der Ebene der künstlerischen Aussage noch nicht so ganz.
WEUSS OVER

SØLYST - Sølyst (8)
Erinnerst du dich noch an Out Run? Pixelgrafik, aber Kalifornien und Cabrio, und bis heute fast unerreicht in Sachen Lässigkeit? Da gab es – wenn mich die Verklärbär-Erinnerung nicht täuscht – nach einer Weile auch den Nacht-Modus (hieß: der Bereich, der den Himmel darstellen sollte, wurde ein paar Farbtöne dunkler gemalt), in dem man einfach ein paar Runden drehen konnte ohne wirklich gegen den C64 gewinnen zu müssen. Einfach nur cruisen, wie man das damals so nannte. Die Platte von Sølyst (kurz: Krautrock-Synthieloops mit Livedrums, vgl. Kreidler) hätte ich dazu gern als Soundtrack gehabt. Quatsch, andersrum: ich hätte heutzutage gern Out-Run-Sessions zu dieser Musik. Verdammte Nostalgie.
KRIS HÜLSBÄCK

2011-08

INTERNATIONAL MOODS - Frequent Traveller (4)
Skycap Records / Rough Trade
Flughäfen bestehen bekanntlich vor allem aus anstrengenden Menschen, aus angespanntem Sicherheitspersonal und aus vollkommen schlechtem Kaffee, kaufbar ausschließlich in bizarr überteuerten Bistros. Eine Platte, die also Travel Lounges und Airportstimmung vertonen möchte und es schafft, dass man sich beim Hören sofort unentspannt und deplatziert fühlt, macht also vermutlich alles schon irgendwie richtig, mich aber trotzdem echt unnötig fickrig.
FM TRINITY

JONO MCCLEERY - There Is (6)
Counter Records / Rough Trade
Der dritte Track hier ist eine riesiggroßartige Coverversion von BLACKs „Wonderful Life“, also so eine aus der Preisklasse von Camera Obscuras „Super Trouper“ oder Carter USMs „Rent“. So ein Ding zum Niederknien und mit Gänsehaut und Fuckyeah-Gefühl, weil daran echt ALLES stimmt. Der Rest der Platte ist leider mittelbelangloses Jazz- & Lounge-Gewimmer mit zugegebenermaßen okayer, also ganz angenehmer Singstimme. Stört nicht arg, wenn’s beim Kochen läuft. Außer an den ganz penetranten Jazzmucker-Stellen. Aber kaufen kann man sich das Ding jedenfalls wirklich wegen Wonderful Life, es gibt heutzutage ja so eine „Repeat Track“-Funktion, glaube ich.
COLIN VEARNCOMBE

MONOSTARS - Absolut! (5)
ZickZack / Broken Silence
Ich kannte mal eine Postrock-Band, die genau so hieß, und ich möchte gar nicht so richtig wissen, ob das hier echt die gleichen Jungs sind. Davon abgesehen klingt das hier ganz schön Halbtomte mit Aszendent Weilheim – könnte ein Tophit in der nächsten Abiturientendisco werden, lässt aber echt ein wenig Konsequenz und Knackigkeit vermissen. Im Abgang, wie wir Gourmets hier so sagen. Trotz des Titels. Aber .. ach, egal.
AXEL POSSE

S.C.U.M - (untitled) (7)
Mute
Total originell eigentlich: eine Londoner Band, die eher dunklen Postpunk macht und das Debütalbum bei Mute rausbringt, also sich demnächst vor lauter Vergleichen mit den Joy Divisions und meinetwegen auch Interpols dieser Welt nicht mehr retten können wird. Immerhin machen die diesmal eine Menge richtig, vom wunderbar abgefuckten Drumcomputer-Sound in „Faith Unfolds“ bis zum ordentlich verstörenden Verzerrer-Effekt anderswo, der sich immer wieder dann angenehm bemerkbar macht, wenn der Sound gerade zu arg in 80er-Gothrock-Richtungen abdriftet.
KARL MCKOI

TARWATER - Inside The Ships (3)
Bureau B / Indigo
Während der ersten vier Sekunden dachte ich noch, da finge gerade eine verlangsamte Version des Beastie Boysschen „Intergalactic“ an. Danach mutierte das alles aber schnell zu Kunststudenten-Gewobbel, verkopfter Konzeptmusik bzw. anstrengender „lass uns doch mal einen Diskurs anstreben!“-Subtext-Musik. Und dafür hab’ ich in den 80ern wirklilch nicht meine Ideale auf der Strecke gelassen!
BASTI BEUYS

VARIOUS - Audible Approaches For A Better Place (8)
c.sides / Kompakt.fm
Wenn man sich das ganze (offenbar wirklich ernstgemeinte) Kitsch-Thema „mit (exklusiver) Musik die Welt zu einem besseren und schöneren Ort machen“ mal wegdenkt, sich also nur auf die über 2 CDs verteilten gerade mal 10 Tracks von Weltverbesserern wie Gold Panda, Khan, Brandt Brauer Frick oder Jasmina Maschina stürzt, – dann ist die Welt nach ungefähr zwei Stunden zwar immer noch ein Haufen Dreck, aber man hatte in der Zwischenzeit wenigstens seinen Spaß mit erstaunlich knackigen SciFi-Ambient-Sounds und experimentellem Kram, der früher bei MTVs ChillOut-Zone gelaufen wäre. Musik für romantische Mathematiker, für bekiffte Kopfmenschen, für Präzisionsnerds mit Herz. Für Menschen mit Dead Can Dance, Autechre und Sauveur Mallia im Regal.
TIKKUN OLAM

2011-09

DEATH IN VEGAS - Trans-Love Energies (7)
Portobello Records
Obwohl sich der Titel ja ungefähr so liest, als wäre er in einem Yoga-Selbstfindungs-Reformhaus im Rahmen einer Familienaustellungs-Gruppentherapie entstanden; obwohl man beim Hören Begriffe wie Post-Pop oder „David Bowie meets Fever Ray“ aus dem Kopf scheuchen muss; obwohl da neben ganz grossen Hymnen („Witch Dance“, „Black Hole“) auch echte Klogriffe („Scissors“) dabei sind; obwohl andere da wohl eher drei EPs als ein Album draus gemacht hätten (aber schliesslich heisst der Mann ja auch Fearless): Trans-Love Energies kann was. Irgendwas zwischen grandios depressiv elektronisch und kitschig melancholisch billigsynthiesk schwankt’s, mit starker Tendez zu ersterem. Und im Zweifel ja immer pro Furchtlosigkeit.
SATAN ZIRKUS

PETERLICHT - Das Ende der Beschwerde (8)
Motor Entertainment
Neben all dem Binsenweisheitskäse, den man mittlerweile auch in Apothekenkundenzeitschriften über PeterLicht lesen kann, gilt aber nämlich folgendes: er ist – und sein neues Album ist, also beide sind – das unkitschigste, romantischste, abgefuckteste, wunderbarste, subjektivste, subtilstanwendbare was man derzeit deutschsprachig bekommen kann. Und wenn „unprätentiös“ nicht so ein prätentiöser Begriff wäre, hätte man den auch noch in diese Aufzählung reinstecken müssen. Das Ende der Beschwerde ist 95% des „Lieder vom Ende des Kapitalismus“-Meisterwerks, es besteht aus filigranen Textversatzstückchen, denen zu Ehren man jeweils eigene Blogs errichten möchte, und es passt zu jedem, zu allem, überallhin, immer. Eins geteilt durch Thees Uhlmann.
TOM RUNNER

ROEDELIUS SCHNEIDER - Stunden (5)
Bureau B / Indigo
Hat ja immer so ein bisschen was von „der nette Onkel erklärt die Welt“, wenn sich eine Musiklegende den Nachwuchs schnappt zwecks Zusammenarbeit. Im vorliegenden Fall ist es aber weniger Boyd Rice & Giddle Partridge, sondern eher so ein Sakamoto & Noto -Ding geworden: Cluster-Roedelius legendiert so ein bisschen in der Gegend herum und muckert dabei altersweise (und das kann man sehr wohl hören!) auf dem Klavier vor sich hin, Kreidler-Torococorot-Schneider frickelt und pluckert und digitalisiert dazu, bis man entweder gemeinsam ratlos in experimentell aussagelosem Klangnebel steckenbleibt, oder (und das dann wieder im Gegensatz zur raster-noton-Sause) etwas ziemlich durchseelt-warmes rauskommt, das als so eine Art Mathematiker-Lounge durchgehen könnte. Kann man im November vielleicht doch ein zweites Mal hören.
BRIAN UNO

SHANNON WRIGHT - Secret Blood (6)
Vicious Circle / Cargo Records
Eigentlich ja ganz gut so: da jammert ein Mädchen, das gern nach Heather Nova klingen möchte, so ein bisschen Sixties-Tweepop-artig herum und klingt dann tatsächlich in guten Momenten immerhin noch nach Cat’s Eyes. Und immer wenn das Wehleidigkeitsvibrato dann gerade doch zu sehr nervt, kommen so ein paar Tracks mit Stromgitarren (sagt man das noch so, Stromgitarren?) und Nineties-Einfluss (lies: Sonic Youth, Breeders) durch, die ordentlich knallen. Strategisch eher Zufall, vermute ich, aber irgendwie dann ja doch okay hörbar auf Albumlänge.
KATSE HATSE

BABY DEE - Baby Dee Goes Down To Amsterdam Dam Dam (7)
Tin Angel / Indigo
Wem bei Antony immer ein bisschen Klaus Nomi fehlte, der darf bekanntlich guten Gewissens auf Baby Dee zurückgreifen, die unterhaltsamste Neofolk-Multiinstrumentalistin fast aller Zeiten. Was besonders auf einer Liveplatte wie dieser ganz wunderbar rüberkommt, denn: diese schnöde Ernsthaftigkeit der letzten Studioalben ist fort, die Ansagen zwischen den Songs geradezu knuddelig charmant, die Lässigkeit und Unfertigkeit ganz angebracht uninszeniert. Und wer „Jazzkeller“ sagt, werfe den ersten Stein, liegt aber auch nicht arg falsch. Als Doppel-CD ein bisschen zu lang für fickrige ADHS-Hirne wie unsere – beim echten Konzert kann man nebenbei wenigstens an der Bar stehen oder Mobiltelefonkids beobachten – aber Spass macht das Ding schon sehr.
TINY TIM

THE REAL TUESDAY WELD - The Last Werewolf – A Soundtrack (1)
Crammed Discs / Indigo / PIAS
Ein Soundtrack zu einem Buch über Werwölfe, der als Einflüsse Gainsbourg, Chopin, Springsteen, Django Reinhardt und Gypsy Jazz anführt, hat genau deswegen null Punkte verdient, weil er ein Soundtrack zu einem Buch über Werwölfe ist, der als Einflüsse Gainsbourg, Chopin, Springsteen, Django Reinhardt und Gypsy Jazz anführt. Den Gnadenpunkt gibt’s dafür, dass wenigstens keine Vampire drin vorkommen. Glaube ich.
TUXEDO SUN

WALLS - Coracle (5)
Kompakt
Die Einsamkeit des Tron-Spielers im Single-Player-Modus. (Will sagen: Wenn man auf so einem Tron-Bike über ein Grid fährt und sich die Landschaft ansieht, hat man da eigentlich ein Autoradio respektive eine Musikhörmöglichkeit dabei? Dann könnte man Coracle hören, die bekiffte Version einer Caribou-Platte. Diese 32bit-Sonnenaufgangssimulationen, denen man dann entgegencruisen kann, sind ja eigentlich auch voll schön.)
IN KONTINENT AL DRIFT

2011-10

DARKNESS FALLS - Alive In Us (8)
hfn Music / Fake Diamond Records
Was Bands aus Dänemark ja ganz gut hinbekommen in letzter Zeit, sind i-Tüpfelchen. Darkness Falls sind gewissermaßen das Vinylknistern zu Ennio Morricone, die Zola Jesus zu BOY, die Wärme zu The XX. Als würde man beim Hören von Alive In Us erst bemerken, was all den anderen noch für Kleinigkeiten gefehlt hatten. Am Ende ist’s dann zwar auch nur Indiepop, aber verdammt guter, nämlich mit Melancholie und Charme und Seele und Poprelevanz. Geschlossen werden möchte diese Rezension nun mit einem sehr wörtlich gemeinten Befehl in Form einer Allerweltsfloskel: man höre und staune!
JOSEPHINE BAKER

ALVA NOTO - Univrs (7)
Raster-Noton / Kompakt
Damals, als wir samstagnachts „Chillout Zone“ von MTV auf VHS-Tapes aufgenommen haben, mit Future Sound Of London und Autechre und Air Liquide und Orbital, und uns so vorkamen, als hätten wir da einen Piratensender entdeckt, der bewusstseinserweiternde und vermutlich von Aliens produziert Musikclips bringt? In einer besseren Welt würden das die Kids heute mit Frickelkram von Raster Noton machen. Von jeglichem Verdacht des Organischen befreites Geplucker, abstrakt as fuck und grossartig wie üblich. Romantik für Minusgrade.
UNI EMALS

NIOBE - The Close Call (3)
Tomlab
In einer Episode von Family Guy ging es neulich um einen Pilztrip von Brian, aber eben so, wie sich Leute Pilztrips vorstellen, die noch nie Pilztrips hatten, nämlich mit Velvet Underground und hippiebunt und sprechenden Bäumen und gewollt wirr. Ungefähr so klingt auch diese Platte.
NICO TWEN

NURSES - Dracula (4)
Dead Oceans Records
Bisschen tragisch, wenn eine Band so klingen möchte wie Animal Collective, dann aber nicht mal MGMT schafft, sondern eher bei Vampire Weekend ankommt. Oder anders: für eine ordentliche Psychedelic-Platte ist Dracula ganz schön sommersonnig, und die knödeligen Vocals sind leider auch nur höchstens 20 Minuten lang originell. For what it’s worth: irgendwann ist das Wetter wieder besser und bei den Strand-Parties gibt’s Gras.
BRAM STALKER

THE OPIATES - Hollywood Under The Knife (4)
Disco Activisto Records / Cargo
Enddreissiger-Versicherungsmitarbeiterinnen, die regelmäßig zu Depeche Mode Parties fahren und auf ihrer Autoheckscheibe einen De/Vision-Aufkleber angebracht haben, dürfte diese Platte gefallen. Mir ist das ja zu anstrengend auf Albumlänge, all diese Preset-Sounds und Kitschbridges und das überemotionale Stimmtimbre und die insgesamtige Glattheit. Könnte aber beim Gothic-Tanztee funktionieren.
DAVE GAHAN II

WARREN SUICIDE - World Warren III (6)
Shitkatapult
Eine der schönsten Bildunterschriften beim Artikel über Tetris in der deutschsprachigen Wikipedia lautet ja: „Ein Spielstein schwebt in der Luft“. Ich stelle mir da immer die emotionale Verfassung dieses Spielsteinteils vor, der ja nicht nur der Gravitation widersteht, sondern gleichzeitig noch Hänseleien seiner Kollegen ausgesetzt ist und vom Spieler gedisst wird, weil er im Weg rumsteht, respektive -schwebt. Ich meine: das sind ganz schön viele Erwartungshaltungen an so ein paar Pixel, von allen Seiten. Obwohl Warren Suicide vor zehn Jahren mal sowas wie Electropunk miterfunden haben, obwohl sie halbfertig in der Luft hängen und obwohl sich keiner mehr für ihre Antigravitationstricks interessiert, kümmern sie sich einen Scheiss um solche Erwartungen. Warren Suicide sind die kaputte Tetrissteinchenhälfte der Musik, und bei so jemandem darf ein Album dann auch mal wirr und eigenartig und unfertig und nach Demotape klingen. Also eigentlich gar nicht mal so übel, sondern geradezu originell.
ALEXEI PASCHITNOW

2011-11

BILL RYDER-JONES - If … (9)
hfn Music / Fake Diamond Records
Woran man eher nicht so sehr denkt beim Hören dieser Platte: an The Coral, bei denen Bill Ryder-Jones bis ca. 2007 noch dabeigewesen sein soll. Woran man aber so denkt beim Hören dieser Platte: an David Darling, an Hilmar Örn Hilmarsson, an das Ende von „Leon – Der Profi“, an das Kronos Quartet, an Skandinavien im Nebel, an osteuropäische Rotweinkaschemmen, an Zeitlupen und an SciFi-Kitschszenen wie in „The Fountain“ oder dem Remake von „Solaris“. Klar, alles (na gut: vieles) ist besser als The Coral – aber das hier ist fast ausnahmslos super. Melanchoholics unite.
MICHAEL NYMAN

JEZ KERR - Numb Mouth Eat Waste (1)
Higuera / Cargo
Manchmal liest man ja ein Buch und merkt so ungefähr beim Umblättern, dass der Kopf gerade eben alles mögliche gemacht hat, aber nicht dem Inhalt des Texts gefolgt ist. Also springt man nochmal zwei Seiten zurück und beginnt den nächsten Versuch, der ungefähr bis zur gleichen Stelle dauert. Spätestens beim vierten Mal fragt man sich, warum man diesen Mist eigentlich liest, wenn alles andere im Kopf doch offenbar viel spannender ist als das gelesene. Dann wirft man das Ding weg (das Buch, meine ich, nicht den Kopf) und schreibt Kurzrezensionen über CDs, bei denen es einem exakt genauso geht.
ADRIAN THAWS

LONEY DEAR - Hall Music (6)
Something In Construction / Rough Trade
Bei einem dieser vermutlich schwer illegalen Darknet-Portale, in denen Kids petabyteweise Musik kreuz und quer durch die Gegend schicken, ohne den Majorlabels Steuern dafür zu zahlen, .. also, will sagen: in einem dieser Portale ist diese Platte mit den Tags „Jazz, Prog-Rock, Folk, Alternative & Chillwave“ markiert. Da will man schon gar nicht mehr wissen, in welches Genre dieses Ding eigentlich und offiziell hätte positioniert werden wollen, denn: das stimmt ganz genau so in dieser Kombination und nicht anders. Basta.
EMGE EMTE

NOTIC NASTIC - Fullscreen (5)
Shitkatapult
Also der Sound stimmt schonmal, die Produktion geht in Ordnung, und dass das ganze bei Shitkatapult rauskommt, ist auch nachvollziehbar. Knackig und kantig, modern, glatt, bisschen TheKnife-Vocals – das, was man eben heutzutage so macht, wenn man aus dem EBM-Alter raus ist, sich aber doch ganz gern noch bunt schminkt in der Grufti-Szene bzw. dort eben nicht mehr. Aber: wenn jetzt irgendwann bei einem eventuellen nächsten Album noch sowas wie eine Idee, eine Dramaturgie, eine Komposition dazukommt, … dann könnte man das vielleicht auch am Stück durchhören, ohne permanent darauf zu warten, dass es endlich losgeht.
RASTA NUTUN

POP WILL EAT ITSELF - New Noise Designed By A Sadist (3)
Cooking Vinyl / Indigo
25 Jahre nach der Veröffentlichung der ersten PWEI-EP reisst Graham Crabb also den Namen an sich und veröffentlicht einen 40minütigen Haufen Langeweile. Immerhin: hatte einen gewissen Überraschungseffekt. Und klingt ein bisschen wie einer dieser öffentlichen Remix-Contests einer 90er-Jahre-Prodigy-Platte.
VEGE ‚T’ ARIAN

ROBERT LIPPOK - Redsuperstructure (8)
Raster-Noton
Im letzten Track dieser Platte kommt eine Harfe vor. Eine Harfe! Bei Raster-Noton! Also nicht das Selbstzweck-Sample einer Harfe, das granular zur Unerkenntlichkeit durch den Effektwolf gedreht wurde und von dessen Existenz man nur dank des Pressewaschzettels ahnt. Sondern: eine Harfe! Will sagen: wenn Carsten Nicolai und Asmus Tietchens einen Sohn hätten … nein, anders: Redsuperstructure ist das organischste, wärmste, durchseelteste, angenehmste, konkretestmöglich romantischste und zugänglichste was man seit langer Zeit auf Raster-Noton hören konnte. Anders gesagt: relativ revolutionär.
SONIC ÄTSCHHOCK

2011-12

PAPERCRANES - Let’s Make Babies In The Woods (5)
Manimal Vinyl / Cargo Records
Ich kann die ganzen Kate Nashs und Regina Spektors und Heather Novas und Fiona Apples dieser Welt ja leider nicht mehr richtig auseinanderhalten. Ein bisschen verschluffte Mädchenvocals, dazu Percussion und harmlose Melodiechen, ein bisschen Leid und ein bisschen Wehmut. Was Rain Phoenix aka Papercranes hier aber zumindest richtig macht, ist: sie steckt dem Genre (Mädchenmusik) ein Reibeisen zwischen die Arschbacken. Man nimmt ihr ab, dass sie nicht verträumt durch die Welt hüpft und bei Starbucks sitzend ein Fashionblog schreibt, sondern dass sie eine der wenigen Folk-Indie-Sistas ist, die ihre Platten aus einer gewissen Notwendigkeit heraus macht. Dass sie nicht großartig darüber nachdenkt, ob irgendwelche Rezensionen im VICE sie mit Regina Spektor vergleichen. Das mag dann beim Rezensenten zwar immer noch unter Mädchenmusik laufen, aber zumindest unter erträglicher Mädchenmusik. So ein scheißegal-Subtext hat ja bekanntlich noch nie geschadet.
LILY EINIGEN

CASIOKIDS - Aabenbaringen Over Aaskammen (3)
Moshi Moshi / Rough Trade
Manchmal stelle ich mir vor, wie beispielsweise ein bekannter musikalischer Kulissenschieber wie Jean-Michel Jarre seine ersten Tastendrücke auf damaligen elektronischen Klangerzeugern gemacht haben mag. Auf einem Gerät der Art „My First Koog“ vielleicht oder auf einem Yps-Extra-Gimmick. Das Resultat klang vermutlich fürchterlich und bestand vor allem aus Presets, Pitchbend-Effekten und dem klassischen Gestammel/Gesang, das von Frau und Herrn Jarre senior ganz super gefunden wurde, denn den kreativen Output der Nachkommen findet man nun mal super, das gehört sich so. Und wenn wir jetzt sehr großes Pech haben, füllen die Casiokids in 20 Jahren auch Stadien und Mehrzweckhallen mit dreistelligen Ticketpreisen. Die entsprechenden Anfänge sind jedenfalls schonmal gemacht: ein Album voller Langeweile und Gewimmer, der in Musik gegossene Trendcocktail auf Afterworkparties.
TARZAN VAN GELIS

THE BIANCA STORY - Coming Home (5)
RAR / Motor
Jetzt haben diese fünf Schweizer also zwei solche Super-Stimmen in der Band, die nicht nur das mit dem Singen gut hinbekommen, sondern auch einfach noch toll klingen, und das nicht nur einzeln, sondern sogar zusammen – und was machen sie? Sie produzieren gefälligen Billo-Pop drumherum, der in Revues, Galas, als pre-Nachrichten-Filler im öffentlich-rechtlichen Hörfunk perfekt passen würde und womöglich auch in Samstagabend-Fernsehshows für Mittelstand-Kleinfamilien gut ankäme (da fällt mir ein – macht die Schweiz eigentlich beim Eurovision Song Contest mit?). „Coming Home“ jedenfalls klingt nach Musik von Konservatoriumsmusikern, von viel zu glatten Perfektionisten, von dem Gegenteil von Punks. Wie furchtbar schade: eine Tanzkurs-Platte ist das geworden. Könnte super sein, hat aber null Überraschungswert.
MOTOR HÄTT’

RUSSELL HASWELL - Acid Noise Synthesis (3)
Mego
Bei Fernsehserien gibt es diesen Punkt, den Amis gern „jumping the shark“ nennen, wenn’s also drehbuch- und produktions-technisch ab sofort ganz offensichtlich bergab geht und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Mist endlich abgesetzt wird: der Kram, den man ehemals liebte, beginnt sich zurückzuentwickeln. Russell Haswell, unsere Fernsehserie der Herzen, der mal mit Aphex Twin und Whitehouse und Florian Hecker zusammengearbeitet hat und irgendwann auch einer der großen Namen zwischen Schmerzsounds und Galeriekontext war, versucht’s jetzt nochmal mit 17 Tracks und 15 Vektor-Oszillogrammen in 73 Minuten inklusive onomatopoetischer Titelschreibweisen und generell ganz viel Billigkeit. Schade drum. Aber wenn bei Oma und Opa im Alter die Körperfunktionen nachlassen, empfindet man ja auch eher Mitleid als Wut – also nehmen wir doch einfach vorsichtig die CD wieder aus dem Player, ersetzen sie mit einer x-beliebigen von Ryoji Ikeda oder Carsten Nicolai, und hüllen das Oszillogramm des Schweigens über Opa Haswell.
DOPPEL HERTZ

ALL THE SAINTS - Intro To Fractions (7)
Souterrain Transmissions
Ich drösel’ das ganze Shoegaze-Ding jetzt mal nerdmäßig auf: am Anfang waren Skywave, aus denen einerseits Ceremony und A Place To Bury Strangers hervorgingen. Die einen (Ceremony) klingen wie The Jesus & Mary Chain mit Dauererektion, die anderen (APTBS) wie ein eingeklemmtes Gitarrenverzerrerpedal auf Pilzen. Will sagen: beide großartig. Wenn wir jetzt von den ca. 9 Geilheitspunkten dieser drei Bands mal einen abziehen für „flasht nicht ganz so unfaßbar, aber immer noch arg“, landen wir bei Screen Vinyl Image (sozusagen Ceremony ohne Eier) – und nehmen wir einen weiteren weg für „ich ahne, was ihr mal werden wollt, wenn ihr groß seid, bis dahin ist es noch ein Stückchen, aber es ist ein ganz okayer Anfang und eigentlich knallt die Platte ordentlich“, dann kommen wir bei 7 Schnuckelpunkten an für All The Saints. Eigentlich müssten wir dann noch einen Gnadenpunkt wieder draufschlagen für alle Rezensionstexte anderswo, die einen „All Saints“-Kalauer bringen – aber mit Empathie hatten wir’s ja noch nie so arg.
OLI ACKERMANN

JAMES LEVY & THE BLOOD RED ROSE - Pray To Be Free (2)
Heavenly Recordings / Coöperative Music
Diese Platte wurde produziert vom Coldplay-Bassisten Guy Berryman, sie enthält unter anderem einen „harmonica-led country-swinger“ und Songzeilen wie „Daddy ain’t coming home“. Und an dieser Stelle hat man noch nicht mal die Hälfte des Albums geschafft. Andererseits: „Geteiltes Leid vergeht nicht“, wenn man sich also durch die komplette Walkabouts-Atmosphäre für Marlboro-Lights-Raucher am Spätsommer-Lagerfeuer gekämpft hat und nach 35 Minuten mit allen 12 Tracks durch ist, so weiss man wenigstens, was man unter Coldplayfans vermutlich unter Romantikern versteht: Sensibelchen, die Lederjacke tragen.
PÖRP ELRÄIN

WRONGKONG - So Electric (5)
ADP Records / Alive
Schönster Satz der Presseinfo: „Es kam, was kommen musste, die Band ging auf Tour.“ – Herrjeh, wenn’s doch Lado wenigstens noch gäbe. Wrongkong wären zwischen Spillsbury und Ascii Disko bestens aufgehoben. Vier Nürnberger Jungs mit kanadischer Sängerin und Electropop: wahrscheinlich gibt’s musikalisch originellere Ideen. Aber eben auch echt doofere. An schlechten Stellen klingt das nämlich nach Melissa Etheridge im Discofox-Remix, an guten Stellen nach IAMX im Gefälligkeitsmodus, wenn man das gegenseitig rauskürzt also nach den kleinen Geschwistern von The Rapture. Und damit zwar durchaus nach Jugendwelle-Radio und meinetwegen auch OpenAir-Newcomerbühne, aber ganz gut vorstellen kann man sich das eben auch live im versifften Indielectro-Club irgendwann nach Mitternacht vor ein paar kaputten Kids. Mit eiernden Discokugeln und viel Schnaps könnte das funktionieren.
WHY WAN

2012-01

DANIEL MENCHE - Guts (8)
Mego
Nach rund 70 Minuten ohrenbetäubenden, zermalmenden, nach direkt in der siebten Vorhölle eines Erzbergwerks aufgenommen klingenden, als Soundtrack zu einer Schlachterorgie wirkenden, trotzdem an keiner Stelle artifiziell (sondern vielmehr „live mitgeschnitten“) rüberkommenden Lärms .. nach rund 70 Minuten Akustik-Armageddon also, und zwar Armageddon der außergewöhnlich guten, weil hirnputzenden, kognitionsbefreienden, alles Rationale auslöschenden Art .. nach rund 70 Minuten Taumel und Wahn und Sturz und Hysterie und Finsterkeit und Audio-Eskapismus – liest man dann in den liner notes der Platte, dass das, was hier durch den sonic Fleischwolf gedreht wurde, offenbar mal Piano-Sounds waren. Danach gerät man in einen dieser manischen, minutenlang anhaltenden Lach-Orgasmen (ungefähr so, wie es all die Schurken gegen Ende von 80er-Jahre-B-Movies gern mal aufgeführt hatten kurz bevor sie dann mit weit aufgerissenen Augen von der Klippe sprangen), drückt wieder auf „Play“ und schnappt dann endlich beim zweiten Hören vollends über.
BÄR SERKER

JASON URICK - I Love You (3)
ThrillJockey
Manchmal fährt man nachts, völlig übermüdet, meist nach Konzerten, allein im Auto mehrere hundert Kilometer nach Hause. Das Radioprogramm ist Schrott und die sieben Becher Kaffee führen zwar zu voller Blase, aber nicht zu unmittelbarer Wachheit, einhändige Smartphonebedienung bei 200km/h hat sich auch schnell als nicht abendfüllend herausgestellt, also beschränkt man sich auf möglichst schnelles Heimkommen, indem man das Fenster aufmacht, noch mehr Gas gibt und abwechselnd das linke und das rechte Auge ein bisschen ausruht und dabei über Lesbenpornos oder Schokolade nachdenkt. Irgendwann kommt man zu Hause an, kann sich aber an kein einziges Detail der letzten drei Stunden erinnern. Irgendwas mit Nickerchen und Nebel war wohl, alles andere – weg. Ungefähr so ging es mir beim Hören dieser Platte. (Also ohne Auto und Kaffee, klar. Aber wenigstens mit Lesbenpornos im Kopf. Ist ja auch nicht unbedingt das schlechteste.)
EI DONT

KIESGROUP - Shantychrist (2)
TumbleWeed / Broken Silence
Es ist ja selten ein gutes Zeichen, wenn man einer Platte nur anhört, was sie eigentlich sein möchte. Also in diesem Fall vermutlich Anajo, PeterLicht oder irgendwas mit schluffiger Seitenscheitelfrisur (ungekämmt) und Zielgruppe BWL-Erstsemester oder meinetwegen auch Abiturienten mit Geschichte-/Bio-LK. Die letzte Kiesgroup-Platte hieß „Das Leben als Umweg zwischen Nichts und Nichts“, und eigentlich ist einem spätestens nach dem ersten Track schon egal, ob „Shantychrist“ jetzt der Umweg oder eines der beiden Nichtse darstellt in dieser eigentlich viel zu naheliegenden Gegenüberstellung. Deutschpop mit gelegentlich originellgemeinten Ausrutschern in lärmigere Experimente oder hin zu Saxophon-Samples, garniert mit brutalst auf Weirdness hingeklöppelten Lyrics (aber zumindest diesbezüglich könnten es auch VICE-Rezensionstexte sein, zugegeben): Wenn, Sinn, Punkt, Aber, Verstand und Komma blieben der Veranstaltung fern. Aber vielleicht ist das ja auch alles nur ironisch gemeint. Kommen immerhin aus Düsseldorf, die Jungs, da kann man nie wissen. Anstrengend, so oder so.
DSCHINN TONIK

LEILA - U&I (8)
Warp / Rough Trade
Erinnert sich noch jemand an Fischerspooner? Das hier klingt wie „Emerge“ in einer abgefuckten, lässigen, unverkrampften Variante, mit etwas mehr Scheißegal und und Nebel und Laser (also im Sinne von Laser, nicht von Porno, obwohl, eigentlich auch ein bißchen im Sinne von Porno). Die beste Entscheidung von Leila jedenfalls war, Mt. Sims für einige der Vocals zu casten: dadurch klingt U&I nicht nach Warp, sondern mehr nach Gigolo, also um mal weiter im Pornokontext zu sprechen: nicht nach Gleitmittel, sondern nach Noppendildo. Selbst die rein instrumentalen Tracks wirken so, als hätte Electroclash endlich „auffe Fresse“ gelernt. Und wenn Fischerspooner die Nullerjahre-Reinkarnation von Sigue Sigue Sputnik waren, dann ist diese Platte die Zehner-Wiedergeburt von Sabotage Qu’est-ce que c’est?, oder noch viel einfacher: der perfekte Soundtrack für Versöhnungssex im Freien, für Headcleaning während U-Bahn-Fahrten zur Arbeit, oder beim Rasieren einer Protestglatze.
ROCKTHE CASPER

SWAHILI BLONDE - Psycho Tropical Bullet Pink (2)
Neurotic Yell / Cargo Records
Wenn man die Begriffe aus einem dieser Rätselheft-Beschäftigungstherapien, bei denen einzelne Buchstaben wahllos auf einem Haufen herumliegen und man sinnvolle Kombinationen herauslesen muss, wenn man also diese Begriffe aus solch einem Rätsel alle rausradiert und nur das übriggebliebene Chaos einfach von oben nach unten oder andersrum laut vorliest, kommt bekanntlich in ungefähr zwei von mehreren Millionen Fällen eine alchemistische Geheimformel heraus, mit der man Weltfrieden herstellen, sich das Rauchen abgewöhnen oder für den Rest seines Lebens den besten Sex aller Zeiten haben kann. In allen anderen (also paarmillionen minus zwei) Fällen hat man nur einen wirren Buchstabensalat als Resultat, aus dem man mit sehr viel Glück vielleicht immerhin noch ein Horoskop oder eine Wettervorhersage würfeln kann. Wäre der musikseinwollende Wust „Psycho Tropical Bullet Pink“ ein solches Beschäftigungstherapie-Rätsel, würde es auf jeden Fall zur zweiten dieser beiden Kategorien gehören.
SIMON DOMER

THE MAGNETIC FIELDS - Love At The Bottom Of The Sea (7)
Domino
Stephin Merritt hat seine Synthies offenbar endlich aus der Reparatur zurückbekommen. Und auch wenn die „69 Love Songs“ natürlich ein Meisterwerk waren und „Love At The Bottom Of The Sea“ musikalisch damit ungefähr etwas weniger als nichts zu tun haben, findet man auf einer Ebene, die akademische Hipster wohl „Anmutung“ nennen würden, Ähnlichkeiten. Genaugenommen ist Merrit der einzige mir bekannte Songwriter, der Zynismus so charmant niedlich verpacken kann, dass dieser vermutlich oft auch mal als Ironie missverstanden wird. Und der einzige, bei dem fast alle Songs höchstens zweieinhalb Minuten lang sein müssen (die alte Punk-Schule!) und trotzdem angemessen lang wirken und alles gesagt haben, was sie sagen wollen. Und der einzige, der ein Album einfach mal irgendwie betitelt, ohne dass der Name irgendetwas mit irgendetwas zu tun haben muss. Außer vielleicht genereller Schmissigkeit. Und Schmissigkeit ist ja sowieso viel zu selten, überall. Also: alles richtig gemacht.
WOLAUNT AIR

ULRICH SCHNAUSS & MARK PETERS - Underrated Silence (5)
Bureau B / Indigo
Was noch fehlte: Postrock ohne Stromgitarren, oder vielmehr Shoegaze ohne Shoe und vor allem auch ohne gaze, statt dessen mit Elektrizität und einem Hauch Vangelis (im schlimmen Fall) oder Jean-Michel Jarre (im akzeptablen). Eine Absicht, die so ganz grob in diese Richtung geht, ist auf „Underrated Silence“ erkennbar, ein kleines bißchen mehr Silence und Drama und Post-irgendwas hätte dem Album allerdings auch ganz gut gestanden. Will sagen: Musik für Nebel-Moorlandschaft-Picknicks, mit LSDesker 70s-Kraut-Orgel-Ästhetik im Subtext und ziemlich schnieker (ja, das nennt man so) Naivität, die, wenn man beide Augen zudrückt, glatt nach Improvisation klingen könnte, wüßte man’s nicht auch besser. Wenn man es irgendwie hinbekommt, die Jarre-Kulissenschieberei aus dem Kopf zu bekommen und die sich stellenweise in den Vordergrund schlumpfende Lounge-Atmosphäre (Hintergrundmusik im Architekten-Bistro & grüne Laserpointer!), machen Ulrich Schnauss und Mark Peters hier aber glatt sehr angenehm bekiffte Breitwandnebelmusik.
ERIK URSICH

2012-02

CLARK - Iradelphic (7)
Warp / Rough Trade
Was fehlt, auf jeden Fall im Vergleich zu „Totems Flare“: Bosheit und Verkniffenheit, Darkness und Krasstracks. Was statt dessen zu hören ist, auf „Iradelphic“: echte Oldschool-Instrumente, schmoove IDM-Klimpereien, bunt, irgendwo zwischen ganz frühen im Morgentau-Halbschlaf aufgenommenen Autechre-Demos und verpeilten 70er-Kiff-Krautsynthies. Die aber wiederum alle mit einer solchen Präzision produziert, dass man beim Hören gerade nicht genervt ist und die Platte zu all den „kann man beim Kochen auflegen“-Sachen ins Regal stellt, sondern eher ins „Soundtracks für Gruppensex auf LSD“-Fach, das ja sowieso noch viel zu leer ist, leerer als man’s gern hätte jedenfalls, seit man die Regalfächer öffentlich sichtbar beschriftet. Der Gesang von Martina Topley Bird auf drei Tracks hätte gern nicht zwingend sein müssen – aber an den Stellen kann man sich ja im Vergleich einfach vorstellen, wie tragisch Tricky heutzutage klingt, und sich danach wieder über Clark freuen.
KOMM TOUCH

GRIMES - Visions (6)
Arbutus Records
Neulich hab’ ich geträumt, ich wäre in einem Raum eingesperrt, in dem pausenlos Musik von Bat For Lashes und Fever Ray gleichzeitig lief. Grimes stand am DJ-Pult und redete die ganze Zeit davon, dass sie Enya und Aphex Twin mixen würde, aber vermutlich waren nur ihre CD-Rohlinge falsch beschriftet und der Mixer kaputt. An die Wände waren umgedrehte Kreuze mit sehr bunten Wachsmalstiften gekrakelt und Kinderreime geschrieben, die statt i-Punkten kleine Pentagramme hatten. Als ich wach wurde, war ich so verstört, dass ich Sargeist-Platten in mehrstündiger Dosis brauchte, um wieder klarzukommen.
POST INTERNET

KRAKÓW LOVES ADANA - Interview (8)
Clouds Hill Ltd. / Rough Trade
Die 120 Minuten vom Nachtleben: Höllenkreis der Melancholie. Und Melancholie hier im Sinne eines traurigen Eskapismus, eines Heimwegs im Regen und eines immer perfekt passenden Soundtracks, zu allem was passiert. Dreimal Alles. Ernst beiseite: „Interview“ fühlt sich ein bisschen an wie „Éclat“ von Monochrome vor einigen Jahren, weniger kantig und laut vielleicht, mehr privat und gefällig, aber auf eine dieser Arten, wie man als Teenie noch dachte, dass jeder Song für einen ganz persönlich geschrieben wurde. Auf dieser ziemlich kaputten aber auch ziemlich modernen Art von Romantik weitergedacht, funktioniert die Platte äußerst wunderbar: am Lagerfeuer und beim Warten auf die S-Bahn, beim Erklären der Welt und beim Erklärtbekommen, beim Alleinsein und beim Händchenhalten – hauptsache im Dunkeln, mehr muss gar nicht. Everything will be okay in the end.
PASO LIBRI

MARK STEWART - The Politics Of Envy (4)
Future Noise Music / Rough Trade
Oberste Rezensionistenehre, die natürlich auch fast niemand befolgt: keine Presseinfos lesen. Nie. Höchstens mal versehentlich drauf gucken, das ist in notfalls Ordnung. Dabei dann aber zufällig lesen, dass sich Mark Stewart für „The Politics Of Envy“ einfach eine Wagenladung Gaststars ins Studio geholt und mit denen ein bisschen Quatsch gemacht hat – klar, macht man eben so, wenn man Mark Stewart ist, was besseres würde mir als Mark Stewart aus dem Bauch heraus auch nicht einfallen –, unter anderem und vor allem aber: Kenneth Anger. Der auf dem ersten Track angeblich ein Theremin spielt. Gut, nochmal langsam: Kenneth Anger spielt ein Theremin auf dieser Platte – eigentlich muss man nicht mehr weitermachen an dieser Stelle. Volle Punktzahl in Sachen Bizarrheit auf jeden Fall. Zum Glück ist das Album musikalisch aber Mittelmaß genug, daß man wieder auf den Boden zurückgeholt wird und es realistisch unbedeutend finden kann. Trotzdem: Kenneth Anger! Am Theremin! Heidewitzka!
BABY LONESOME

PETER BRODERICK - http://itstartshear.com (2)
Bella Union
Mädchengrunzen, das [n.]: Worte, die – bspw. in sog. Mädchenblogs – oft zur Empathieäußerung und Zustimmung sowie zur emotionalen Kategorisierung pubertierender Schminkmonster verwendet werden. Mädchengrunzlaute sind bspw. „hach“ oder „aww“, auch das etwas modernere „<3“ kann dazu gezählt werden. Erhöhtes Vorkommen von Mädchengrunzen deutet stark auf Nagellackfarben-Diskurse, Einhörner, Ryan Gosling oder Musikrezeption von The Whitest Boy Alive, José González, Nick Drake oder Peter Broderick hin.
REIGN BOW

SPIRITUALIZED - Sweet Heart Sweet Light (8)
Double Six / Spaceman Recordings
Es soll ja Menschen geben, die DrugRock „SpaceRock“ nennen. Meinetwegen. Klingen tut’s trotzdem, immer noch und weiterhin wie die Beach Boys bei Nacht und nach dem vierten Longdrink. Der vorab schon veröffentlichte Track „Hey Jane“ jedenfalls ruckelt fast neun Minuten lang quer durch die Synapsen, und auch in den restlichen 50 Minuten vergeistigt sich neben den Lyrics so einiges. Das tollste daran: nach spätestens einer halben Stunde ist einem fast alles in der Welt plötzlich völlig egal. Und das nicht auf der latent aggressiven „leckt mich doch alle“-Ebene, sondern auf einer totalen „ihr habt recht und ich meine Ruhe“-Entspanntheit. Hammond-Orgeln, große Gesten, Schlaghosen, Sixties, Zügellosigkeit. Und ganz nebenbei versteht man auf einmal dann auch all seine „White Hills“-Platten.
VINCENT GALLO

VCMG - Ssss (2)
Mute
Martin L. Gore eines Tages zu Vince Clarke vermutlich so im Studio: „Fertig.“ – „Das nennst du fertig? Das klingt nach einer Preset-Demo für eine Musikmesse.“ – „Ey, ich hab’ mir voll Mühe gegeben.“ – „Naja, für eine dieser ostdeutschen Depeche-Mode-Parties in einer Mehrzweckhalle wird’s vielleicht reichen.“ – „Du bist aber auch anstrengend. Hast du dir denn inzwischen wenigstens einen guten Namen überlegt?“ – „Ich dachte, wir nehmen einfach unsere Initialen ..“ – „MLG & VC?“ – „Naja, du müsstest dein L. weglassen …“ – „Mein Markenzeichen weglassen? Bist du verrückt?“ – „Eigentlich sollte ich deinen ganzen Nachnamen streichen, so wie das Machwerk hier klingt.“ – „Schon gut. Steck’ dir mein L sonstwohin, aber lass’ uns endlich diese dämliche Platte rausbringen, ich muß meine Miete zahlen.“
FROHGE MUTE

XIU XIU - Always (6)
Bella Union
Wo Kaputtheit nicht nur ein aufgedrehter Verzerrer ist, wo Intensität nicht nur durch Brüllen erreicht wird, wo Provokation nicht nur Schock ist sondern Inspiration sein will: Xiu Xius Zehnte. Verstörend as – achtung – always, persönlich noch viel mehr, kryptisch as fuck, und diesmal trotzdem auf eine noch ganz unerwartete Weise (Aha: Meta-Verstörung!) zugänglicher. Für Jamie-Stewart-Verhältnisse, that is. Thematisch also noch immer so, als bekäme man Dinge wie Inzest, Sexualität, Krieg, Mord, Abtreibung und mehr Trash-TV-kompatibles im Minutentakt per Faust in den Gehörgang geprügelt, aber diesmal sind die Fäuste wenigstens einmal vorher in Gleitmittel gewendet worden. Unklassifizierbar und eigenartig, klar.
KACKO FONI

2012-03

DOCTORELLA - Drogen & Psychologen (1)
ZickZack / Indigo
Ich bin dieses politisch korrekte, meta-ironische Berlinzeug so leid. Die Türen, Christiane Rösinger, dieses ganze Zeug, das der Friseur deiner Mutter gern hört, weil er es versteht und für totally sophisticated hält. Haha, Bionade, haha, Club Mate, haha, Großstadtsehnsucht und Prenzlauer Berg und Kinderwägen. Das ist Musik, wie Matthias Schweighöfer Filme macht (das Begleitschreiben nennt es "radikal-romantisch und rebellisch dekadent", aber das ist das gleiche). In diesem Fall noch mit einem total putzig gemeinten Feminismus-Subtext, vermutlich, weil das Cover so bunt ist, und Texten wie "Liebe Stadt, komm fang' mich auf, mein Leben ist ein Dauerrausch". Liebe Doctorellas: auch Scheiße, die gern ironisch wäre, ist vor allem erstmal Scheiße, und die Welt wäre eine bessere, würden sich weniger Leute glauben, dass dieser Kram kein Antenne-Brandenburg-Schlager wäre. (Die Antenne-Brandenburg-Zielgruppe kann wenigstens noch schlechten von gutem Schlager unterscheiden. Das ist ja auch so eine Sache, die man als Prenzlauer-Berg-Brunchhipster offenbar verlernt hat. Schließlich hört man da Radio Eins.)
THEES TARDIS

ELFIN SADDLE - Devastates (6)
Constellation / Southern / Cargo
Platten sind immer dann prinzipiell schonmal schwer in Ordnung, wenn sie entweder genau wissen, was sie konkret sein wollen, also so eine totale Absicht irgendwo mitschwingt, oder wenn sie das selbst vollständig überhaupt nicht wissen, dich also genau an jener Stelle treffen, wo du auch bist im Leben. Völlige Planlosigkeit als Resultat von „Ach, gucken wir mal“. Devastates ist genau so eine Leierei. Afterhour-Musik für Kneipen, die als Spelunken bezeichnet werden. Es dudelt der Sack, es schieft der Gesang, es knirscht die Pauke, und bei all dem ist es dir auf eine schwer angenehme Art völlig egal, was das für ein Genre sein soll, ach was, eigentlich ist es dir sogar völlig egal, ob das hier Musik sein möchte oder Schokolade oder ein Geschirrspüler. Außerdem ist das Cover ziemlich schick.
SAMM ALONE

MITTEKILL - All But Bored, Weak And Old (7)
Staatsakt / Rough Trade
Wer Zeilen wie „Ich wünsch’ mir drei Tage Stromausfall auf der ganzen Welt“ neben „Der Popo ist gewackelt, jetzt wird nicht mehr gefackelt“ auf ein Album packen kann, macht entweder sogenannte volkstümliche Musik bei Marianne und Michael oder latent gaga angedünsteten Club-Electro-Schlager bei Staatsakt. Die Gagkurve krieg’ ich jetzt nicht mehr ganz, deswegen: Mittekill gehört zur zweiten der genannten Gruppen. Das verflixte zweite Album (sagt man so!) jedenfalls ist voll mit Wahrheiten (textlich) und Schunkelectro (musikalisch) und Situationen (dramaturgisch), die ich einfach beim besten Willen nicht peinlich finden kann, sondern höchstens amüsant und stellenweise sogar riesig.
LÄSSIE SÄNGER

MOTOR - Man Made Machine (4)
CLRX / WordandSound
Irgendwann in den 90ern hatten wir einmal frühmorgens nach der einen oder anderen alkoholischen Weltherrschaftsfantasie mal die Idee, den Merchandisemarkt mit der noch zu erfindenden T-Shirt-Größe XM zu revolutionieren. Vermutlich kein gutes Zeichen, wenn mir das gerade jetzt wieder einfällt, wenn ich diese Platte höre. Zu ungefähr der gleichen Zeit haben wir solche Musik wie diese hier jedenfalls Futurepop genannt, aber damals fanden wir ja auch VNV Nation noch „düster“. Zum Vierviertelbeat mit Coke Light in der Hand auf der Tanzfläche, und später den Mädels die Tür aufhalten, aber „kampfbereit“ auf der Jacke stehen haben. War zum Glück nur eine Phase und ging auch schnell wieder vorbei.
HÄTT HUNTER

OBERHOFER - Time Capsules II (5)
Glassnote / Coöperative Music
Du bist mit deinem Freund jetzt schon vier Monate zusammen. Um dieses Jubiläum zu feiern, schlendert ihr gemeinsam über den Jahrmarkt. Du musst lächeln, als er deine Hand nimmt und ihr euch nochmal fühlt, als wärt ihr Teenager. Achterbahn fahrt ihr lieber nicht, schließlich hattet ihr gerade Zuckerwatte. Aber ins Spiegelkabinett traut ihr euch. Du magst diese Locke, die ihm dauernd ins Gesicht fällt. Zu deinem 19. Geburtstag hat er dir die erste Staffel „How I Met Your Mother“ auf DVD geschenkt, die wollt ihr nachher noch gemeinsam ansehen. Kurz bevor es dunkel wird, versucht er dir noch eine Plastikblume am Schießstand zu ergattern, schafft es leider nicht. Du findest ihn trotzdem süß. Auf dem Heimweg werdet ihr von einer Rockerbande unflätig angebrüllt und du fühlst dich geborgen, als er dich daraufhin fester in den Arm nimmt. Zu Hause angekommen habt ihr Beischlaf bei gedimmten Licht, während diese Platte läuft.
NÄCHSTERUNDE RÜCKWÄRTS

SLEEP PARTY PEOPLE - We Were Drifting On A Sad Song (6)
Blood And Biscuits / Alive
Die Tiere sind ruhiggestellt, sangen Kante mal, oder so ähnlich. Passt jedenfalls auf das live in Hasenkostümen auftretende dänische Knöpfchendrehorchester, das in einem Genre landet, das ich soeben Postdreampop genannt habe und das klingt, als würden Sigur Ros ein Afterhour-Set von Kavinsky remixen. Die angebrachteste Musik von allen für einen Spätsommer wie diesen, wo Ende April schon das Übergangsjäckchen herausgeholt wird, man aber gern noch ein bisschen draußen sitzen mag und dabei Eis von der Tankstelle isst. Ernst beiseite: da hat jemand eine ganze Menge Radiohead und Chromatics gehört und ist sich dazu am Notebook mit 70s-Analog-Synthie-Presets ausgetobt. Nach einer halben Stunde wirkt das zwar ein wenig anstrengend, aber zumindest nicht blöd.
SCHNARCHI SCHLUMPF

STILL FLYIN’ - On A Bedroom Wall (5)
Staatsakt / Rough Trade
Es gibt bestimmt irgendeinen Fachausdruck (den zu googeln ich gerade zu faul bin) für Formulierungen wie „Nein, Schatz, ich bin dir nicht böse, nur weil mir dein Essen nicht schmeckt“ oder auch „Ich entschuldige mich dafür, dass du mich falsch verstanden hast“ – also für verkappte Beleidigungen im Höflichkeitsmantel. Ich jedenfalls habe gerade das Pendant in Umgekehrt erfunden: wenn ich „On A Bedroom Wall“ beispielsweise als „gar nicht so schlimm wie ‚The Drums’“ bezeichne, dann klingt das absolut passiv-aggressiv, ist aber hingegen im Subtext völlig liebevoll gemeint. Und wenn das wer nicht versteht, tut’s mir leid.
SURFIN’ SCHWÄBISCHGMÜND

SUPER 700 - Under The No Sky (8)
Motor Music / Rough Trade
Es gibt viel zu wenig Pop-Platten, die unaufdringlich sind, ohne dich permanent spüren zu lassen, dass sie unaufdringlich sein möchten. Diese hier ist erstens gut und zweitens ganz genau auf jene Art beiläufig lässig: Sehnsucht, Trost und Verbrüderung in rund 40 Minuten. Oder mal mit einem etwas lebensnaheren Vergleich beschrieben: „Under The No Sky“ ist eine Platte wie Zooey Deschanel ohne anstrengende Putzigkeit und penetrant-ironische Anbiederung und mit viel mehr Ruhe. Also .. eigentlich eine Platte wie ein Date mit Kirsten Dunst. Genau. In einer angenehmen, aber nicht zu abgefuckten Bar. Wo im Gin&Tonic eine Geheimzutat drin ist, die ihn doppelt so gut macht wie anderswo. Mit Glitzer und Pink. Also die Geheimzutat. Aber vielleicht auch Kirsten Dunst. Die ja auch unaufdringlich super ist, ohne dauernd zu betonen, wie unaufdringlich sie gerade super ist. Worauf wollte ich noch gleich hinaus? Ah, genau: Super 700 haben Kirsten Dunst vertont. Toll.
ÖPVE EY

WHITE RABBITS - Milk Famous (4)
Mute / GoodToGo
Ich war vor einiger Zeit wegen eines Mädchens, in das ich mich damals schockverknallt hatte, bei einem Konzert der White Rabbits. Das Mädchen stand auch auf Phoenix und die Junior Boys, ich hätte also ahnen können, dass das nichts wird mit uns (und es wurde auch nichts), aber an diesem Abend fand ich die White Rabbits natürlich ziemlich toll (ich glaubte sogar selbst dran). Das Mädchen erklärte mir dann, dass gerade das zweite Album von denen erschienen ist und das ja schließlich auch so viel besser als das erste wäre, und irgendeine Verbindung zu Spoon, die an diesem Abend Support waren, gab’s da auch noch. Jetzt ist also das dritte Album raus und mir fällt wieder auf, was für einen lapidar unnötigen Kram die White Rabbits doch spielen, wie sehr diese Musik vor sich hindudelt ohne Ideen und sogar ohne Groove, wie fahrstuhlig das alles wirkt, wie unstoppelig und synkopenlos (und wie verknallt ich damals gewesen sein muß). Und natürlich klingt das nett und harmlos, aber eben leider auch nur nett und harmlos. Also die Musik jetzt, nicht jenes Mädchen. Obwohl, die ja eigentlich auch.
BLACK PANTHER

2012-04

GRAND DUCHY - Let The People Speak (3)
Cooking Vinyl / Indigo
Einer ungünstigen Kombination aus früher Geburt und westdeutscher Kleinstadt habe ich es zu verdanken, dass mein erster Kontakt zu „Thailändischer Küche“ in einem sogenanntwerdenwollenden Sport-Vereinsheim stattfand. Abgesehen von der krankenhausesken Einrichtung und den Stammtischschildchen auf den Tischen erinnere ich mich daran, wie uns die stattliche Kellnerin in breitem Pfälzer Dialekt die verschiedenen zur Verfügung stehenden Saucen erklärte, und die schärfste davon mit dem Wort „pfiffig“ bezeichnet. Was ein umgekehrter Euphemismus war, wusste ich damals noch nicht, in Stilfragen war ich aber schon früh ein Klugscheisser: „pfiffig“ klang – ungefähr wie auch „schräg“ oder „flippig“ – schon in den 90ern nach Deutschlehrermief. Eine Platte, deren Pressetext die Begriffe „schrill“ und „erdig“ verwendet, klingt also ungefähr so, wie das Essen damals schmeckte: öde. Macht satt, aber nicht glücklich.
RATCHA ANACHAK

HUORATRON - Cryptocracy (6)
Last Gang Records
Wenn du 303-Bassline ein paar mal durch den Effektwolf drehst, mit Bratzentechno ausstattest und auf Viervierteltakt trimmst als würdest du gerade einen Wipeout-Soundtrack produzieren, landest du irgendwann bei Huoratron, der das ganze offenbar allen Ernstes „Beardcore“ nennt ohne lachen zu müssen. Oder vielleicht auch mit. Man weiß ja nie. So oder so: Cryptocracy loopt und zirpt und trommelt und moduliert fröhlich hektisch durch die Gegend, als wäre Skrillex noch Underground und als wäre das jährliche „Maschinenfest“ eine Berghain-Party. Knackig, wenn es dann mal nach MSTRKRFT klingt, und nervtötend, wenn man gelbe Smileygesichter vor dem geistigen Auge hat. Bonuspunkte für das automatisierte Remix-Ding, das kurz nach Album-Release dafür sorgen soll, dass jeder Bonus-Download von der Huoratron-Website anders klingen wird.
NOYS BOIZE

LIGHT ASYLUM - Light Asylum (5)
Mexican Summer
Vossianische Antonomasien, die eigentlich passen müssten: die Alison Moyets des EBM bzw. die Andrew Eldritchs des Synthpop, die Leonard Cohens des Underground bzw. die Grace Jones’ der Zehner, oder eben die David Bowies der kleinen Club-Bühnen, also gewissermaßen ja die Marianne und Michaels des Doom-Metal. Die Two-Hit-Wonders der One-Hit-Wonder, befürchte ich allerdings mittlerweile auch, an „Dark Allies“ und „Skull Fuct“ kommt auf dem netterweise endlichen Debüt-Album nämlich nicht ein einziger Ohrwurm oder wenigstens eine Bassline entfernt heran. Was auf der „In Tension“-EP noch sexy retro charmant klang, die Stimme Shannon Funchess’ nämlich, ist auf Albumlänge eher eine Art René Kollo mit Drill-Instructor-Timbre geworden. Was aus genau dem folgenden Grund sehr schade ist: .. nein, fällt mir jetzt leider keiner ein. (Der Koitus Interruptus der Quatschrezensionsdramaturgien.)
PONTIUS UNTERBRICHUNS

MOTRIP - Embryo (7)
Universal Music
Da steckt ja eine Menge Reflexion, respektive Projektion, drin, wenn ich darüber nachdenke, wieso Hipsterkinder seit einiger Zeit eigentlich deutschsprachigen Rap genießbar finden. Das kann nicht nur an Casper und Materia liegen, sondern erklärt sich folgendermaßen: eine ganze Menge vorher im Möchtegernghetto herumdümpelnden Prollbrüder hat offensichtlich neulich beschlossen, doch mal Sachen veröffentlichen zu wollen, die nicht nur Sack und Bauch ansprechen, sondern – in Deckung, es folgt Romantik: – auch Kopf und Herz. Die Hipster sprechen über Rap dann natürlich ungefähr so kompetent wie Stefan Raab sich auf Studiogäste vorbereitet (Grundwissenkärtchen: Sido ist irgendwie in Ordnung, Bushido hingegen ein Fitnessstudiodepp, Marsimoto ist der Typ mit grün und Prinz Pi eher so Neukölln) – trauen sich dann aber doch sogar zu, „Embryo“ super zu finden aus einer Mischung der genannten Gründe und ohne das besser oder knackiger belegen zu können. Weil Kopf und Herz und so. Trotz Bushido.
MATT ERIA

ORBITAL - Wonky (3)
ADA / Warner
In den sogenannten Neunzigern waren Orbital einer jener Acts, die man versehentlich nachts auf MTVs Party Zone entdeckte, während man sich fragte, welche Wahnsinnigen dort wohl gerade Bon Jovi und Belinda Carlisle so einander näherbrachten, dass Jahre später daraus der Begriff Mash-Up werden sollte. In den sogenannten Nullern waren Orbital mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden, Mash-Ups begannen zu nerven und auf MTV lief keine Party Zone mehr. In den sogenannten Zehnern ist MTV ein schlechter Scherz, Mash-Ups jucken keine Sau mehr und Orbital sind endgültig zur Karikatur ihrer selbst verkommen. Eine Platte, die neunzigerer klingt als die Neunziger, und das not in a good way. Mit welcher Summa Zola Jesus gezwungen wurde, auf einem Track so zu klingen, als wäre sie das Rent-a-Vocalist-Stimmchen einer SNAP-Maxi, ist da schon fast nicht mehr interessant.
RAY COKED

REVEREND AND THE MAKERS - @reverend_makers (5)
Cooking Vinyl / Indigo
„Nothing seems to sum up the present and the times we live in more than the @-Symbol“ wird John McLure zitiert, angeblich auf die Frage nach der bekloppten Titelschreibweise. Wenn man sich nach dem Lachen über diesen Quatsch erholt hat, ist das Halbstundenmachwerk leider schon einmal komplett durch. Beim zweiten Durchgang dann: erstaunlich unspektakuläre Popmusik, die man in Muckerkreisen wohl „grundsolide“ nennen würde, aber irgendwo zwischen älteren Trevor-Horn-Sachen und Lounge-Remixes von KLF-Knallern. Begleitmusik für die Putzkolonne nach Warehouse-Raves im besten Fall, Bio-Öko-Café-Hintergrundmusik im Prenzlauer Berg im schlimmsten. Einen Schuss Indie, ein bisschen Electro, ein klein wenig Dance – tut nicht weh, aber tut halt leider auch echt nicht weh. Carter USM auf Valium.
CHAUN CHEEP

THE CAST OF CHEERS - Family (6)
School Boy Error
Maximo Park sind gar nicht tot, sondern leben zusammen mit Elvis und James Dean im Himmel der ehemals coolen Jungs. Dort spielen sie sich den ganzen Tag Black-Metal-Platten vor und lachen sich krank über Musikjournalismus und Fast-Food. Manchmal bekommen sie Promos geschickt, beispielsweise von The Wombats, dann gibt’s bei uns schlechtes Wetter oder Stromausfall zur Strafe. Vor kurzem kam das Album von The Cast Of Cheers bei ihnen an, das läuft dort jetzt immer beim Kochen oder Zocken.
MAXIMUS PORK

MÚM - Early Birds (5)
Morr Music
(folgt)
MITTEL MASS

2012-05

FOSTERCARE - Altered Creature (5)
Robot Elephant Records
Bei Spülmittel gibt es ja diesen Kreislauf von flüssig zu Pulver zum Granulat zu Tabs und wieder von vorn, es eschert gewissermaßen ganz ordentlich alle paar Jahre durch die Aggregatszustandsdefinitionen. Aber wie in C-Horror-Movies eben auch die dämlichste Filmfigur nach der dritten Runde merkt, dass sie wieder im gleichen Raum angekommen ist auf ihrer Flucht vor dem Kettensägenmörder, so ähnlich funktioniert das auch bei Musikgenres: was mal Witch-House war, wurde zu Zombie-Trance und Discolectro/Synthwave und ist jetzt wieder in den 90ern angekommen bei Endneunziger-EBM/IDM à la Haujobb oder Velvet Acid Christ. Und man fühlt sich beim Hören kurz verwirrt, dann wieder jung, dann retro, dann verarscht. Aber eben mehr so von der Welt insgesamt. Außer echt schlechtem Timing kann man Fostercare ja auch nicht viel vorwerfen.
BENDER DUMBO

INFADELS - The Future Of The Gravity Boy (4)
Sony
Wir erinnern uns, oder vielmehr euch: „Love Like Semtex“ war das Ding, zu dem ihr euch vor ungefähr einem halben Jahrzehnt in den Indie-Discos dieses Landes nochmal sportlich betätigt hattet – dieses Wackelpo- und Rumhüpf-Stück, bei dem ihr die Mädels drumherum so gern betrachtet hattet, aus Gründen. Wir erinnern euch weiterhin: danach wurde die Band von einer Automarke für Promoquatsch aufgekauft und machte fortan das gleiche, nur noch langweiliger und gewolltviraler. Das dritte Album könnte „Heidewitzka, die gibt’s noch?“ heißen, heißt es aber nicht, weil die Wackelpo-Musik immer noch mit mutigem Quatsch garniert und viel zu hohem Anspruch serviert wird anstatt direkt in die Indiedisco-Playlists, wo sie für ein paar Wochen Spaß sorgen und dann wieder vergessen werden kann. Aber um wippende Brüste zu sehen, haben wir in unserem Alter inzwischen auch echt bessere Locations gefunden.
RALF EDENKOBEN

JAPANDROIDS - Celebration Rock (6)
Polyvinyl / Cargo Records
Beim Titel „Celebration Rock“ denkt man an langhaarige Harley-Tanzbärchen, die mit Lederjacken-Patches auf dem Rücken und Feuerzeug in der einen Hand ihr Sonnenbank-Mäuschen in der anderen festhalten, und sich nachmittags beim Grillen ein 800g-Steak reinziehen. Bei den Japandroids hingegen denkt man an zwei US-Hipster, die klingen wie fünf japanische Noisecore-Nerds, und denen erstmal vieles egal ist, vermutlich auch was sich Rezensenten unter dem Titel „Celebration Rock“ so vorstellen, und was Harley-Tanzbärchen zu mittag essen sowieso. Die acht Tracks des verflixten zweiten Albums jedenfalls klingen ordentlich egal und lässig, und wenn bei Rock irgendwas wichtig ist, dann ist das immer noch Egalheit und Lässigness. („Post Nothing“ fand ich als Titel aber immer noch knackiger.)
CELEBRATIUS NIHIL

LITTLE GANG - Half Of Everything (9)
Control Freak Kitten Records / Cargo Records
Kennst du das eigentlich noch, eine Platte zu hören, die geradezu mystisch wirkt? Unvorbereitet damit konfrontiert zu sein, dass sich da jemand um Wahrheit bemüht und Absolutheit, dass da jemand mit Musik versucht sich mitzuteilen, weil es nicht anders in Worte fassbar ist? So wie du das jahrelang von Current 93 kanntest, oder neuerdings von Tu Fawning vielleicht noch, oder ganz wenigen anderen Postrock- oder Black-Metal-Acts? Dass du einer Platte anspürst, dass sie für den Bauch gemacht ist, also keinen Emo-Mist oder verkopfte Lyrics beinhaltet, sondern eine musikalische Ahnung über die Welt rüberbringt? Ungefähr so, als würdest du nachts in einer Bar (nur leicht betrunken) jemanden kennenlernen, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen wirst? Nein? Besorg’ dir „Half Of Everything“ und schreib’ mir Dankesbriefe. Los.
THIRD GALLANT

MAN WITHOUT COUNTRY - Foe (3)
Lost Balloon / Coöperative Music
Und es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, worauf ein jeglicher Bürger auf M83 abzufahren hatte gleich welchen Musikgeschmacks er sonst bevorzöge. Es war aber auch einmal, jedenfalls, ein tapferer Ritter, der damals M83 nicht nur nichts abgewinnen konnte, sondern in völligem Unverständnis über die angebliche Wirkung jenes Musikstils immer wieder gegen Windmühlen, respektive Drachenweiber zu kämpfen hatte. Den Geisterfahrer-Kalauer konnte er schon nicht mehr hören, und seine Rüstung war irgendwann auch nicht mehr Punk, sondern Penner, so zwecklos erschien ihm der Kampf nach all den Jahren. Auch die Geheimwaffe des Druidenkumpels, ein Zaubertrank, der innerhalb von Sekunden stockbesoffen machte, konnte ihm nicht helfen: alle waren M83 erlegen. Als eines Tages „Foe“ von „Man Without Country“ erschien, brachte sich der tapfere Ritter schließlich um, indem er sich zusammen mit einem Gedichtband von Lord Byron verbrannte. Seine letzten Worte waren „Für eine Welt ohne Diddlmaus!“, und wenn er nicht gestorben ist, dann schämt er sich jetzt irgendwo zu Tode.
CUPCAKE WURST

SEBASTIEN TELLIER - My God Is Blue (5)
Record Makers / Alive
Was ist blau, sieht aus wie Jesus und klingt wie Serge Gainsbourg? Was macht mittlerweile Musik, die nicht nur aussieht, sondern auch klingt wie der feuchte Traum eines UFO-Sekten-Hippies? Wer sagt Spiritualität, meint aber Masche? Wem sind wir deswegen trotzdem nicht böse? Wem nehmen wir allerdings nicht mehr ab, dass es keine Masche sein soll? Was ist musikalisch das regenbogenfarbene Kaugummi-Gegenstück zum „Drive“-Soundtrack geworden? Wessen Drogen würden wir auch gern mal ausprobieren? Die Antwort auf alle dieser Fragen bis auf eine lautet Sebastien Tellier, die Antwort auf die verbleibende lautet deine Mutter.
VOLLBART SIMPSON

THE HUNDRED IN THE HANDS - Red Night (8)
Warp Records
Die lächerlichen Verrenkungen, die man beim Songwriting so macht, um am Ende ebenjenes – einen „Song“ – zu bekommen, also das ganze Hinproduzieren auf Struktur und Gefälligkeit und ein paar Ecken noch dazu, aber eben nicht zu viele, diese Verrenkungen führen dann irgendwann meist dazu, daß das Bauchgefühl vergessen wird, der Anlaß, der Ausdruck. Man muss sich ja nur mal The Killers ansehen, respektive –hören. The Hundred In The Hands, vermute ich, haben beim ersten Album noch einen ähnlichen Fehler gemacht, diesen danach bemerkt und sich bei der Produktion ihrer jetzt zweiten Platte einen Scheiß um „Songs“ gekümmert, sondern um: Ausdruck, Seele, Abstraktion, Relevanz, Empathie, Stil, all solche Buzzwords. Allein dafür schon 7 Punkte. Einen extra dafür, daß „Red Night“ eine riesige, schiefe, dreckige, finstere, sperrige Pop-Platte geworden ist trotz allem. Kaum klassifizierbar, außer: Wow mit Glitzer.
NEUN NEUNUNDNEUNZIG

THE TALLEST MAN ON EARTH - There’s No Leaving Now (3)
Dead Oceans / Cargo Records
Lieber Folk. Wir müssen reden. Du begleitest mich jetzt schon so lang in meinem Leben, ich kenne dich in allen möglichen Verkleidungen und fand manche davon ziemlich super und manche davon eher anstrengend, aber eigentlich mochte ich dich immer noch, auf guten wie auf schlechten Platten. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Du willst mir den siebenundzwanzigsten Bob-Dylan-Verschnitt unterjubeln, der quasi in der freien Natur groß geworden ist, live auch angeblich einen so bodenständigen Charme mitbringt, daß die Frauenherzen schmelzen, und, Alter!, Melancholie und der ganze Kram – aber das geht so nicht. Der Typ klingt immer noch, als wäre er aus der Kinder-Country-Werbung gehüpft gekommen und als würde er unter „reiten“ echt was anderes verstehen als die Zielgruppe. Das ist Simon ohne jeglichen Garfunkel. Ich ertrag' diesen Käse einfach nicht mehr. Das ist nicht romantisch, das ist nervtötend. Ehrlich. (Und ich will ja gar nicht gleich die Scheidung, aber – vielleicht wenigstens Cass McCombs so als Kompromiss, anstatt dieser Heultöle? Denk' wenigstens mal darüber nach.)
CAROLINE INGALLS

2012-06

O.CHILDREN - Apnea (5)
Deadly People / Rough Trade
Ich habe manchmal Alpträume, in denen mir Mashups erscheinen, die aus 80er- und 90er-Bauklötzchen zusammengesetzt sind. Taylor Dane meets Nick Kamen, solche Sachen. Neulich hab’ ich von Soundgarden geträumt, die von Alphaville gecovert wurden, oder meinetwegen auch umgekehrt. Das Monster war ein ganz fürchterliches, so eine Art rückwärtssingender Mark Knopfler mit Gitarrengegniedel als Hipsterpopsample im Hintergrund – nach dem Aufwachen war ich jedenfalls deutlich verwirrter als sonst ob der Morgenlatte. Was ich damit sagen will: das Zweitdings von O.Children ist so ein ähnlicher Zerberus geworden, der unter eine immer noch unfassbar gute Stimme (Nick Cave meets Tom Smith) inzwischen leider nur drittklassigen Gothpop (Bob Dylan meets Samsas Traum) legt. Über die Morgenlatte möchte ich aber bitte nicht weiter sprechen.
SNAP BROS

OTTO VON SCHIRACH - Supermeng (8)
Monkeytown / Rough Trade
Versteht man die Musikchecker im sog. Internetz richtig, hatte Otto von Schirach in der sicht ernstnehmenden Breakcore-Szene wohl einen Namen, den er mit Supermeng gerade verspielt. Was den Musikcheckern im sog. Internetz aber fehlt, ist Lockerheit. Supermeng nämlich ist dermaßen überzogen auf die Spitze getrieben, wirft so arg Miami Bass und Sigue-Sigue-Sputnik-Zitate neben Jean Michel Jarre auf Speed, ist ab der ersten Sekunde so unernst hingeworfen, dass es sofort exakt den Punkt erreicht, an dem im Prinzip absolut alles völlig egal ist. Aphex Twin covert Love Missile F1-11 – ernst nehmen können sowas nur die Musikchecker aus dem sog. Internetz, alle anderen lachen sich ab sofort bitte schusslig über „Mengstep“, während sie ihre Booties shaken.
GRAVI TRON

BROKEN WATERS - Tempest (6)
Hardly Art / Cargo Records
Die böse Seite der gespaltenen Zunge sagt: Lederjackenrock aus den 90ern, Alice in Chains mit ein bisschen mehr Garage und Lo-Fi, Musik für ungeduschte Abiturienten. Die andere Zungenseite hingegen: dem Indierock fehlte ja schon lang eine Mischung aus Modest Mouse und Sonic Youth, angenehm verpeilt schrammelig und gequält melancholisch, Musik für barttragende Neukölln-Langzeitstudenten. Wenn die beiden Zungenhälften sich Mühe geben, können sie sich verknoten, mindestens und meistens aber wenigstens eine kleine Choreographie abliefern, nach der man nicht mehr genau weiß, von welcher Seite jetzt welches Urteil kommt. Ist aber auch völlig egal, man hat sich eh längst in den Metaphern verheddert.
COCTEAU TRIPLET

2012-07

PURITY RING - Shrines (8)
4AD / Beggars / Indigo
Kunstgriff des Monats: mit dem Cut-Off so lang rumspielen, bis eine Stilmittel draus wird, im Idealfall ein Genre, oder doch wenigstens eine Masche, die auf Albumlänge funktioniert. Tut sie. Belispeak ist vermutlich der Song des Jahres, und auch der Rest der Platte ist ein auf Mädchen-Pink getrimmtes Gloompop-Meisterwerkchen, das insgesamt gerade kurz genug ist, um noch nicht zu nerven. Ein Stimmchen haucht Düstertexte, dazu rückwärtst sich rauschigbunter Slowmotion-Pop durch den Nebel. Das ist alles so beängstigend sympathisch und fluffig, dass man glatt die eigene Metal-Jugend nochmal remixen möchte. Herrjeh.
KOOL GANG

CHAINS OF LOVE - Strange Grey Cats (5)
Manimal / Cargo
Unter dem Titel „Music For Pussycats“ erschien vor einigen Jahren, zusammengestellt von einem gewissen Boyd Rice, eine Compilation mit eigentlich für sich genommen eher öden, in Zusammenstellung und Kontext und Präsentation aber geradezu großartig charmanten Songs einiger 60s GirlGroups. Unter dem Titel „Strange Grey Days“ erscheint in einigen Tagen, zusammengestellt von der Kapelle „Chains of Love“, ein Album mit fast dem gleichen Zeug, nur etwas weniger Abwechslung und weniger Ironie. Und halt auch weniger Boyd Rice. Schade.
SUSAN RAFEY

GARY WAR - Jared’s Lot (4)
Mego / Dense
Gary War ist einer dieser Künstler, über den dir deine barttragenden Hipsterfreunde zwei Tage vor einem Konzert erzählen, dass es der heißeste Scheiß seit der Erfindung heißer Scheiße wäre, und dass du unbedingt mitkommen musst in einer dieser stickigen Löcher, wo der Eintrittspreis handschriftlich auf einem abgerissenen A5-Zettel als Spenden-Intervall geschrieben steht und das Wasser gratis, aber das Bier abgestanden ist. Nach zwei Stunden Wartezeit und ungefähr drei Support-Acts (so genau lässt sich das nicht sagen, die Grenzen zwischen Putzkolonne und Künstler und DJ ist in solchen Locations fließend) spielt der Haupt-Act dann exakt 24 Minuten lang mit einer Glasscherbe auf einem selbstgebauten Synthieversuch, während die besoffenen Typen im Publikum entweder alles auf ihren Smartphones mitfilmen oder sich laut über irgendwelche Fashionblogs unterhalten. Nach dem Konzert bist du froh, dass draußen doch noch Sauerstoff vorhanden ist, merkst dann aber, dass du nach Bier riechst. Für all das kann Gary War natürlich nichts, deswegen immerhin 3 Gnadenpunkte. Den vierten dafür, dass deine barttragenden Hipsterfreunde John Maus doof finden.
SING ULAR

VISIONS OF TREES - Visions of Trees (4)
Something in Construction / Rough Trade
Es gab mal so eine Zeit, vor ungefähr 15 bis 20 Jahren, in der Gothic noch nicht daraus bestand, sich Neon-Plastik in die Haare zu flechten, als „die Zillo“ noch ein Fanzine war und in der EBM irgendwann mal FuturePop genannt wurde (aber damals auch keiner so recht wusste wieso eigentlich). Denk’ dich in diese Zeit zurück und dann stell’ dir einen Talla2XLC-Remix von Love Is Colder Than Death vor, oder das One-Hit-Wonder von X-Perience („A Neverending Dream“), nur mit mehr Nebel drumherum, in einer Gruftidisco, in der Rotwein-Cola das Trendgetränk ist: exakt so klingen Visions Of Trees. Wie hieß noch gleich der Synthpop-Ableger von Zoth Ommog?
BASE OF ACE

THE VERY BEST - MTMTMK (6)
Moshi Moshi / Coöperative Music
Der Begriff „Weltmusik“ gehört (neben „Wettervorhersage“, „Schüsslersalze“ oder „Tatort“) zu denen, die in der Regel für einen Fluchtreflex sorgen. Vor dem geistigen Auge (ah: „geistiges Auge“, gleiche Kategorie!) erscheinen buntgebatikte ältere Damen, die sonntagnachmittags die Welt verbessern mit fair gehandeltem Veganbrunch und Hennafarb-Präsentkorbflechtungen. Auch wenn die Simonandgarfunkeligkeit hier nicht ganz so knallt und The Very Best zwar ein eher moderner kognitiver Remix dieser Geisteshaltung sind: ganz so weit weg von „BongoBongo meets Drumcomputer plus Charity“ entfernt sich auch MTMTMK nicht. Stellenweise aber echt perfekt als Imagetrailer-Soundtrack auf Eurosport!
PETER CROWS

JAMES YORKSTON - I Was A Cat From A Book (6)
Domino
Sehr geehrter Cass McCombs. Wir wissen das zu schätzen, dass du so platzt vor Kreativität, dass du deine Emo-Herz-Knaller im Monatstakt veröffentlichst und dass du es als einer der ganzen wenigen Kalifornier zudem noch schaffst, irgendwie britisch zu klingen, fast schon schottisch. Und dass dir Schnullis wie Jose Gonzales oder Nick Drake nicht nur nicht das Wasser reichen können, sondern geradezu in einer anderen Liga musizieren, eigentlich fast schon in einer anderen Sportart. Wir verstehen aber wirklich nicht so recht, wieso du deinen für deine Verhältnisse eher mittelmäßigen Output jetzt unter dem Namen James Yorkston veröffentlichst. Der ist zwar immer noch grandios im Vergleich zu 80% der Schnulzbarden, die da draußen so rummusizieren, aber – hast du das wirklich nötig? Das kannst du besser. Reiß’ dich zusammen.
DEEP PURPLE RAIN

THE HIRSCH EFFEKT - Holon: Anamnesis (2)
Midsummer Records / Cargo
Wikipedia zitiert eine Selbstbeschreibung dieser Band als "Indielectro-Post-Punk-Metal-DIY". In jedem einzelnen dieser Genres wäre diese Platte durchgefallen. Na gut, als DIY vielleicht nicht. Aber das ist ja auch sowas wie „hat sich immerhin redlich bemüht“ im Zeugnis.
LURCHI SCHLEGEL

TASTATUR - Electric Lounge Machine (7)
Everest Records
Hiermit wird der Begriff „pluckern“ im aktiven Musikrezensions-Wortschatz eingeführt: monotones vor-sich-hin-knattern im Dämmerzustand, organisch klingen wollendes Loop-Geschlumpfe für Trance-Videos oder als Hintergrundmusik von Fernseh-Teletext-Chats werktagnachts auf Tele5. Beispielsatz: „Electric Lounge Machine“ pluckert geruhsam das Hörerhirn auf Nieselregenfrequenz. Und der Bandname ist sowieso ungooglebar, versuch’s am besten gar nicht erst.
TANTRA NAHKAMPF

2012-09

BEN GIBBARD - Former Lives (4)
City Slang
Wenn ich mir echt mal verkneife, das Genre als solches zu bewerten – harmlos-unbedeutende Sozialpädagogencafésoundtracks irgendwo zwischen Keane und Joss Stone, so eine Mischung aus Weltverbesserungs-Musik und Nöl-Indie – wenn ich also versuche, diese Platte als „it is what it is“ zu akzeptieren und damit als Exemplar der Gattung „Musik, die die Welt so nötig hat wie Astrologie und Abtreibungsgegner“ und damit versuche, mich wirklich nur auf den Robbie-Williams-Gesang und die Mumford-and-Sons-Beliebigkeit und .. – nein, nochmal von vorn: Diese Platte ist wird in spätestens zwei Monaten jeder vergessen haben, der diesen Absatz hier gerade gelesen hat. So.
DEATHCAB MYASS

CHRIS COHEN - Overgrown Path (5)
Captured Tracks
Was Hippiekiffermusik angeht, gibt’s ja die sich ernstnehmende Spät-68er-Version mit Harley Davidson und Politik, aber eben auch die Vincent-Gallo-Variante, die eher in Richtung Indie-LSD und Zeitlupe geht. Chris Cohen ging bei Deerhoof und Ariel Pink zur Schule, gehört also zur zweiten der genannten Gruppen – und macht auf seiner Soloplatte einen leider gerade nicht mehr zur Jahreszeit passenden Mix aus Lagerfeuer-am-Strand- und Alles-ist-egal-Musik. Hätte man besser planen können mit einer Veröffentlichung im Spätsommer, aber das praktische an Jahreszeiten ist ja, dass sie sich meistens irgendwann wiederholen. In der Zwischenzeit denken wir als Hausaufgabe mal über den Unterschied zwischen Gelassenheit und Lässigkeit nach.
WARM CAVE

MENOMENA - Moms (8)
Barsuk / Alive
Beim Hören dieser Platte fiel mir auf, dass ich Menomena bisher immer mit Efterklang verwechselt hatte. Zu meiner Verteidigung: beide sind einigermaßen bunt und orchestral quatschig, respektive experimentell im Auftritt. Aber Menomena sind die, die man dabei immerhin halbwegs ernstnehmen kann. Die Band ist jedenfalls auf ein Duo geschrumpft seit der letzten Platte, und das entweder tolle oder schlimme daran ist, dass man den Unterschied fast nicht hört (vielleicht, weil die Instrumente weiterhin nicht personengebunden eingesetzt, sondern öfter mal gewechselt werden): grundsolider Indie-Pop, der diese Grat zwischen Langeweile und Verkopfung geradezu meisterhaft entlangläuft. (Wenn „nett“ übrigens die kleine Schwester von „scheiße“ ist, ist „grundsolide“ der große Bruder von „geil“.) Will sagen: Menomena sind die Tu Fawning des Indiepop.
JIM BUTTON

REPTILE YOUTH - Reptile Youth (4)
hfn / Rough Trade
Der vierte Track auf dieser Platte, „Speeddance“, ist von der Anmutung her noch ungefähr drei Nuancen nervtötender als zum Beispiel das Gepfeife von Peter Bjorn and John vor ein paar Jahren, mutierte also innerhalb weniger Minuten nach Veröffentlichung zu einem sog. „Hit“ für BWL-Erstsemester, die in der Indiedisco mal „die Sau rauslassen“ wollen (aber nicht zu doll). Lässt man den mal außen vor, bleibt: eine ganz schön humorlos mittelmäßig glattproduzierte Pop-Platte.
STEVE IRWIN

SEAPONY - Falling (6)
Hardly Art / Cargo
Als braver Hipster habe ich mich sofort in das Mädchen auf dem Cover verliebt. Es hat rote Haare, man sieht ihr Gesicht kaum, aber der Oberbekleidung nach zu urteilen scheint das Bild im Spätsommer aufgenommen und durch einen oder mehrere Instagram-Filter gejagt worden zu sein. Außerdem ist (singt) sie in einer Band. Das sind, grob überschlagen, 27 Gründe, ihr sofort einen Heiratsantrag zu machen. Der achtundzwanzigste ist der erste Track der Platte, der wie Beach House plus Twee klingt, oder wie Best Coast minus vier Fünftel der Gitarrenverzerrer. Der Rest der Platte ist dann immerhin noch wie ein Strand-Sonnenuntergang ohne Kitsch: irgendwie konsens-super, aber haarscharf gerade noch eben so, dass es einem nicht peinlich sein muss.
FRITZ ARMISEN

THE HELIO SEQUENCE - Negotiations (9)
Sub Pop / Cargo
Vor ungefähr zehn Jahren habe ich mich kurz nach der Entdeckung von Sigur Ros in ein Mädchen verliebt. Es wurde nicht die große Liebe, aber es war ein paarwöchiger Flash und wir hängen auch heute noch gemeinsam rum und finden uns ganz schön toll. Also: ich und das Mädchen. Aber ich und Sigur Ros eben auch. Wenn es nicht so abgeschmackt klingen würde, könnte man sagen, Sigur Ros hätten den Soundtrack zur damaligen Verknallung bereitgestellt – sowas wird man nicht mehr los, sowas bleibt hängen. Unaufgeregtheit und Hoffnung, Neugierde und Unbesigbarkeit, alles drin. Wie es aussieht, werde ich jetzt in den nächsten Wochen permanent The Helio Sequence auf meinem Musikplayer, also in meinem Kopf dabeihaben, wenn ich unterwegs bin, und ich bin schon ordentlich gespannt darauf, in wen ich mich bald verlieben werde.
GOLF EDEN

THE SOFT PACK - Strapped (7)
Mexican Summer / Coöperative Music
Ich werde in irgendeine Pet-Shop-Boys-Hölle kommen für diesen Vergleich, aber: dieses Album klingt, als wäre Neil Tennant in eine New-Wave-Band (nicht: Post Punk!) gebeamt worden. In eine von denen, die man nicht wegen, sondern trotz des Saxophons mag. Die in den 80er Jahren ein Album voll schmissiger B-Seiten hätte rausbringen können, und alle hätten es großartig gefunden. Genaugenommen ist Strapped exakt ein solches Album geworden: eines, das kalifornisch klingt und erwachsen, aber eher „vintage“ als „retro“. Zielgruppe: Menschen, die gemeinsam etwas trinken gehen können, ohne sich dabei zu Tode feiern zu müssen. Also ganz genau wie wir alle, mittlerweile.
NERM BERCH

VAN SHE - Idea Of Happiness (3)
Modular / Rough Trade
Auf meiner Stirn steht offenbar geschrieben „hey, schickt mir langweiligen Electropopstershit, denn ich fand auch die Junior Boys noch nicht öde und die von ihnen benutzten Effekte noch nicht billig genug, also her mit dem ganzen abgeschmackten Kram, der so ein bisschen nach Sonne und Nachmittag und hüpfenden jungen Menschen und ganz viel ironischer Harmlosigkeit klingt, geradezu so, wie meine Eltern auch schon alles, was „funky“ sein wollte, unausstehlich fanden, denn meine Eltern waren cooler als ihr alle, aber das führt jetzt zu weit, und außerdem ist auf meiner Stirn auch nur begrenzt Platz“ – so kam es jedenfalls, vermute ich, dass diese Platte bei mir landete.
EDUARD SCHISSERHAND

WINTERSLEEP - Hello Hum (5)
Affairs Of The Heart / Indigo
Über elf Songs lang so zu klingen, als hätte man Potential, als würde es gleich losgehen, als läge da irgendwo eine riesiggroße kompositorische Idee am Horizont, eine Ahnung von Dramaturgie geradezu, als wäre man ganz kurz vor dem Meisterwerk, – als würde man die Energie, die Auflösung, die Enttarnung sich aber doch verkneifen (wollen), als hätte man entweder keinen Bock oder keine Inspiration für das endgültige, das einem eigentlich gut zu Gesicht stehen würde: so, ungefähr, stelle ich mir die Sache mit tantrischem Sex ja auch vor. Also vielleicht nicht mit exakt 11 Songs, aber .. ja, du weisst, was ich meine.
SEPP TIM

2012-10

CLINIC - Free Reign (5)
Domino
Die Band, auf die du damals aufmerksam wurdest, als in einem Kaugummi-Fernsehspot ein Schaf mit Rasenmäher durch’s Bild flitzte und der Sound dazu wie französischer Punk aus den 80ern klang, wirkt jetzt auf ihrem ungefähr achten Album exakt so, als wäre das Schaf inzwischen trockener Alkoholiker und hätte beim Dreh des Spots einen Fünf-Tage-Bart. Der Rasenmäher ist kein Diesel mehr, sondern ein umweltschützendes Elektromodell, und irgendwie ist alles ein bißchen mehr prenzlauerbergesk geworden als vor zehn Jahren. Kurz: die werden auch nicht jünger, trauen sich aber leider immer noch das gleiche zu. Bonuspunkte für den Versuch als solchen.
MR. MOONLIGHT

DIE ANGST - Die Angst in uns ist die Angst vor euch (8)
Moon Records
Liebe Turbostaat-Fans. Wenn ihr mal wissen wollt, woher eure Helden kommen, also womit sie vermutlich musikalisch sozialisiert wurden, vielleicht nicht konkret, aber grob in Sachen Genre und Subkultur; wenn ihr, so sehr wir alle ja auch Turbostaat für „das gerade noch akzeptable Ding im Mainstreampunk“ halten, wenn ihr also mal ein bisschen vom Mainstream weg wollt; wenn ihr vielleicht mal wieder Bock auf fiese Keller mit günstigem Bier habt, anstatt auf teure Konzerthallen mit nicht so ganz zur Musik passenden In-Drinks – Die Angst ist nicht die Lösung all dieser Probleme, aber ein ganz wunderbares musikhistorisches Korrektiv für euch, eine Ergänzung geradezu, eine Notwendigkeit für jeden musikalisch Zuspätgeborenen und Zugutgelaunten meinetwegen.
ZWERF VEIZLUNG

MAC DEMARCO - 2 (6)
Captured Tracks
Die Frau, in die ich letztes Jahr verknallt war, und in die ich eigentlich immer noch verknallt bin, hätte diese Platte wahrscheinlich großartig gefunden. Eine bekiffte Lagerfeuer-Version von Jens Friebe, die lässigste Art überhaupt „camp“ zu sein, ein fast kitschfreies und unaufgeregtes Singer/Songwriter-Album. Ich hatte ihren Musikgeschmack noch nicht vollständig verstanden damals, war aber jedesmal begeistert allein von der Bandbreite bzw. Genre-Streuung – und da ich überzeugt bin, daß man sich nicht wegen solcher Attribute oder gleicher Geschmäcker verknallt, sondern seinen Geschmack der Verknallung unterordnet, will sagen: da Frauen, in die ich verknallt bin, die einzigen sind, die an meinem Musikgeschmack arbeiten dürfen (egal ob aktiv oder passiv), muss an dieser Platte irgendwas dran sein, das ich bestimmt noch entdecken werde, wenn ich sie nur oft genug höre. Noch verstehe ich sie nicht ganz, aber das hat eigentlich nichts zu sagen.
KUKI DENT

EL PERRO DEL MAR - Pale Fire (3)
Memphis Industries
Es begab sich also zu der Zeit, als Lykke Li einen Slacker-Sonntag mit einer Musikproduktions-Software auf dem Sofa verbrachte und dabei die „balearic“ Drum-Patterns entdeckte und die Saxophon-Samples aus dem Unterverzeichnis „Examples“. Das Label war zuerst nicht sehr erfreut, drückte es aber diplomatisch aus und sagte: „klar, können wir veröffentlichen, ist aber schon ein bisschen anders als deine bisherigen Sachen, wir können deine Fans da nicht total irritieren, also vielleicht unter einem anderen Namen und mit ganz viel secret-sideproject-Gerede?“, woraufhin das Fräulein Li bockig wurde und keine Lust mehr auf die Veröffentlichung hatte. Die Wochen zogen ins Land, Lykke Li ließ sich von Triggerfinger covern und wurde dadurch noch reicher als sowieso schon und konnte sich von all dem Geld einen neuen Computer anschaffen. Ein Mädchen namens Sarah Assbring, das bitterlich an seinem Nachnamen litt und eines Tages trotzdem ein gebrauchtes Notebook günstig bei ebay erstand (und sich dabei noch dachte, daß auch die Verkäuferin des Geräts ja nicht gerade viel Glück gehabt hatte, was den Nachnamen anging), fand auf jenem Computer 10 gar putzig klingende, über-harmlose Tracks, die sie einfach mal an ein Label schickte. Sie wurde einigermaßen erfolgreich, und wenn sie nicht gestorben sind, verbringen die beiden Frauen seitdem gemeinsam ihre Slacker-Sonntage.
PELVIS LEBT

ECKE SCHÖNHAUSER - Input (6)
Tapete
Da ich nicht weiß, ob die Band diesen Vergleich super oder völlig daneben findet, kann ich ihn ziehen: in guten Momenten klingt diese Platte wie altes Zeug von Blumfeld, in schlechten wie ganz altes von Mittekill. Da Mittekill im Lauf der Zeit immer besser und Blumfeld immer schlechter wurden, kürzt sich das alles gegenseitig zueinander raus und wir sind wieder so schlau wie am Anfang. Immerhin: wenn man das schwurbelige Kontextgerede mal ausblendet (denn Input möchte ein „Konzeptalbum“ sein, und zwar – Achtung! – über „die Ex“, jawohl) bleibt noch ein angenehm dreckiger und seltsamer Zwilling der letzten paar Platten von Ja, Panik. Bei denen ist man ja am Ende auch immer genau so schlau wie am Anfang.
DIE EXEX

NEIL HALSTEAD - Palindrome Hunches (5)
Sonic Cathedral / Full Time Hobby
Immer noch keine Slowdive-Reunion in Sicht, dafür klingt Neil Halstead inzwischen endgültig wie der vergessene Bruder von The Strawbs: Einmümmel-Musik für Menschen, denen an Sauwetter-Herbsttagen Melancholie zu depressiv ist, die sich aber dennoch stetig Sorgen machen über .. nein, eigentlich nur so: für Menschen, die sich stetig Sorgen machen. Aber die könnten eigentlich auch einfach Nick Drake hören anstatt Herrn Halstead von Slowdive abzuhalten, diese Penner.
SUN HITZ

TAMARYN - Tender New Signs (4)
Mexican Summer
Das Internet so, in einer Rezension dieser Platte: „Why doesn't Mexican Summer have a sub-label called Mexican Bummer?“, und ich dann so: „Ach fuck, ey, war das nötig, mir die Unvoreingenommenheit zu verderben, ich hab’ doch noch gar nicht reingehört!?“, und das Internet wieder so: „Tja, selbst schuld.“ – und wo es recht hat, hat es recht, das Internet. In diesem Fall liegt’s mit dem Eingangsstatement aber auch nicht unbedingt weit daneben. Will sagen: klares Zweizunull für das Internet, was Tamaryn angeht.
ALEISTER KRAULI

2012-11

CHAD VALLEY - Young Hunger (5)
Cascine
Dass dieses spät-achtziger-eske Balearic-Zeug, das eigentlich aus Arcade-Soundtracks wie Out Run stammen könnte, heutzutage in der ganz furchtbaren Version von Hipster-Cafés als Hintergrundmusik läuft – ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, und wenn ja, eher für die verkorkste eigene Videospiel-Jugend oder doch für den ironisch fashionbloggenden Szenekiezbewohner? So oder so: ein Album für Menschen, die Strandbars landschaftlich interessant finden und Sonnenuntergänge leidenschaftlich romantisch. Kann man sich immerhin ganz gut ins Setting rein-inszenieren, wenn man im Urlaub gerade irgendwas mit Campari trinkt, aber wer hat heutzutage schon noch Urlaub außer fashionbloggenden Szenekiezbewohnern? Eben.
HAARALD SCHNITT

LUST FOR YOUTH - Growing Seeds (8)
Avant! Records
Ich zerbreche mir ungelogen seit fast drei Minuten den Kopf darüber, wie ich einer Platte, die ich an keiner Stelle wirklich schwerst beeindruckend finde, die aber so eine furztrocken coole Endzeit-Weltschmerz-Stimmung rüberbringt wie das sonst nur Angstpop-Acts aus der Galakthorrö-Schmiede schaffen, einer Platte, die das gleiche hier aber mit 70er-Synth-Noise macht (also: Punks auf Entzug besetzen ein Studio und zimmern ein bisschen herum, bis es nach Coil meets Coldwave klingt), wie ich also einer solchen Platte irgendwie begründet 8 Punkte geben kann. Dann ist mir eingefallen, dass ich das ja gar nicht muss, weil keiner von euch Hosenscheißern nur nach der Punktzahl geht, sondern immer und überall nur den vollständigen und ausfundierten Rezensionstext liest und hernach seine Kaufentscheidung trifft. Toll.
SEKTCHEN AUFSHAUS

NAOMI PUNK - The Feeling (7)
Captured Tracks
Würde Jay Reatard noch leben, täte er sagen: geiler Sound, beschissener Bandname. Und danach zusammen mit Naomi Punk auf die Bühne klettern und klingen wie Bass Drum Of Death , wenn die Aufnahme leiert und der Abend spät ist. Das Konzert würde 24 Minuten dauern, inklusive Zugaben, die aber natürlich nicht "Zugaben" genannt wurden, und im Lauf dieser 24 Minuten hätte es mindestens so viele "lauter!"-Rufe wie fliegende Bierflaschen gegeben, aber keine Verletzten, außer sehr vielen Tinnitussen am nächsten Tag. Ach, ich vermisse Jay Reatard.
FEELING ZEH

NILS BECH - Look Inside (3)
Fysisk Format
Was die Patrick Wolfs und Antony Hegartys dieser Welt erträglich macht, ist vermutlich zu einem ordentlichen Anteil so ein Humor im Subtext, eine Gelassenheit im Umgang mit dem eigenen Anspruch, oder kurz: sie überlassen es dir, ob du es toll oder scheiße findest, was sie so machen. Der Volksmund brüllt aus dem Off: "Ja, sie nehmen sich nicht zu ernst". Du wunderst dich kurz, dass der Volksmund Mundgeruch hat, stimmst aber zu, suchst daraufhin noch eine Weile nach wenigstens einer kleinen Flapsigkeit oder Ironie im Pressetext zu "Look Inside", rufst aber dann doch lieber Antony an um ihn zu fragen, was er von Nils Bech hält. Nach zwei Stunden hört ihr statt dessen wieder alte Tiny-Tim-Platten und kichert über den Gestank norwegischer Fürze, die ihr vorhin noch für Mundgeruch gehalten hattet.
LISA LUCKSCHEITER

PROXY - Music From The Eastblock Jungles – Part I (2)
Turbo Recordings / Dim Mak
Liebes 1991: wir haben gerade aus Versehen ein schlechtes Prodigy-Demo von dir veröffentlicht. Wir konnten noch nicht genau rekonstruieren, wie das passieren konnte, haben jetzt aber hier den Schlamassel, und nicht nur den mit dem Zeitschienen-Paradoxon: Musikhistoriker sind erschüttert und Stadionraver der ganzen Welt in ihrer Evolution um mehr als 20 Jahre zurückgeworfen. Hilft ja nichts: da müssen wir jetzt durch, Zeitmaschine hin oder her. Vorschlag zur Güte: wir schicken euch das Ding zurück, ihr macht Prodigy groß und bekannt und denkt euch einen Genrenamen aus, der in die Geschichte eingeht, – und so ungefähr zur Jahrtausendwende haben wir den Mist dann wieder vergessen?
FIRE STOPPER

TRST - Trust (5)
Arts & Crafts
Einer der besten Songs der letzten sagenwirmal drei Jahre ist auf dieser Platte versteckt. "Candy Walls" ist Zuckerwatte für melancholische Spätsommer-Popper, eine unfassbar wunderbare Hymne für depressive Nerds, in Electro-Goth gegossene Synthie-Hoffnung. Die restlichen 10 Tracks auf TRST klingen dann aber fast durchgehend wie eine gelangweiter Crystal-Castles-RipOff, dem es an kompositorischen Ideen fehlt. Meine Willkür entscheidet sich für identische Gewichtung dieser beiden Aspekte, oder kurz: Candy Walls ist ausreichend toll, dass TRST immer noch als Mittelmaß durchgeht. Es ist halt nicht alles scheiße, was glänzt.
LASSE REINKÖMM

{AWAYLAND} - Villagers (8)
Domino
Das punkigste an dieser Platte sind natürlich die Sonderzeichen im Titel, die Archivierungsnerds (Plattenläden, Dateisysteme, Neurotiker, usw.) in den Wahnsinn treiben werden. Der darauf enthaltene Mädchenfolk ist dann zwar beim ersten Hören einerseits an Harmlosigkeit kaum zu überbieten, andererseits aber mit einer so detailverknallten Coolness produziert, die die Harmlosigkeit mehr als wett macht: da singt eben nicht nur irgendein Bart-Träger von Herzschmerz und Weltentfremdung und gniedelt ein bißchen auf der Gitarre herum, nee, da steckt Dramaturgie und Idee drin, und nebenbei noch ganz behutsames Elektronikgefrickel und ein stellenweise Orchestralteppich. Hätte man aber auch echt mal früher merken können, dass eine gute Indiefolkplatte so einfach funktoniert: man muss nur den Kitsch weglassen.
ERNST ÄLTER

2012-12

NAKED LUNCH - All Is Fever (9)
Tapete Records / Indigo
Hymnische Platte. Am Ende einer Nacht, die von dieser Musik begleitet wurde, lächelst du melancholisch den Sonnenaufgang an und bist mit dir völlig im Reinen. Will sagen: Theatralik von der Sorte, die dich so packt, dass du dich beim Hören kurz umguckst, ob das allen so geht oder nur dir, wenn du vor Freude flennst. Riesiggroße Gesten als Pop. 42 Minuten im Rausch: Ungefähr das, was Moneybrother früher mal versucht hatte (nämlich so zu klingen, als würden Mando Diao ABBA covern), was aber eigentlich nur My Heart Belongs To Cecilia Winter halbwegs ordentlich gelingt. Ironiefreiheit. Diese Platte macht alles richtig: sie macht, daß alles richtig ist.
MY CORONA

DARWIN DEEZ - Songs For Imaginative People (4)
Lucky Number / Coöperative
Der Typ, den alle nur kennen als "den mit dem Lockenkopf", hat eine neue Platte gemacht. Man wird sich an sie erinnern als "die zweite Platte von dem mit dem Lockenkopf (von dem uns auch bei der ersten Platte eigentlich schon eine EP gereicht hätte)", und man ahnt, dass der Typ mit dem Lockenkopf vielleicht gern auch mal mehr wegen seiner Musik geschätzt werden würde, aber solang jene so unscheinbar und egal und gniedelig und wannabe-funky bleibt, wird der Typ mit dem Lockenkopf wohl damit leben müssen, dass das jetzt eben die zweite Platte von dem Typen ist, den alle kennen als "den mit dem Lockenkopf". Wenn wenigstens "Radar Detector" nochmal drauf wäre ..
BILL COSPLAY

DELPHIC - Collections (1)
Chimeric / Coöperative
Ich vermute ja, dass die neueren Sachen von Muse nur deswegen so scheiße sind, weil sie Delphic dafür bezahlt haben, dass sie ihnen den Kram geschrieben und eingespielt haben. "Collections" scheinen die übriggebliebenen Produktionsreste aus dieser Phase zu sein, jedenfalls klingt dieses Machwerk NOCH mehr nach Muse als Muse selbst und damit NOCH fürchterlicher, belangloser, jammeriger, unentschlossener und unerträglicher als fast alles andere 2012 gehörte. Schon jetzt die eierloseste Platte des Jahres. Muss man ja auch erstmal hinbekommen.
MATTHÄUS BEL AMI

VISHNU - Nightbeat Love (3)
Big Dipper
Musik für männliche Hetero-Mittfünfziger mit ordentlich Brustbehaarung, die von "Freiheit" träumen und damit Klischees aus Filmen meinen, in denen eine Harley Davidson vorkommt. Im Soundtrack solcher Filme läuft meist sogenannter "echter Rock" wie dieser hier, beispielsweise in Szenen mit einer Musicbox in einer Kneipe oder einfach während des Abspanns. Die Frauen solcher Männer tragen Jeanswesten und haben schlechte Haut, aber ein gutes Herz. Und keine Kinder. Niemals Kinder.
BIGGUS DIPPUS

2013-01

TUSQ - Hailuoto (8)
Strange Ways Records / Indigo
Es könnte alles so einfach sein. Bands müssten nur ein wenig danach klingen, als hätten sie gute Ideen und Bock, dazu vielleicht noch ein bißchen Trinkfestigkeit und Timing. Dann müssten sie noch den Quatsch mit dem Geldverdienen vergessen und bei Interviews eben nicht ihren Promozettel runterbeten, sondern über Neugierde und Durchhaltevermögen sprechen, über Sex und Wahnsinn, oder meinetwegen auch über ihren Einkaufszettel. Kurz: Knackigkeit. Und schwups, schon läuft das mit der guten Rezension hier im Fachblatt für Neugierde und Durchhaltevermögen. Und es wurde kein einziges Mal Finnland, Hamburg/Berlin oder U2 erwähnt!
HEIL OTTO

PATRICK RICHARDT - So, wie nach Kriegen (5)
Grand Hotel van Cleef
Du muß dir das folgendermaßen vorstellen: wenn Gisbert zu Knyphausen Songs schreibt, kommen da – je nach Tagesform – nicht immer welche raus, die verkopft und interessant und gänsehauterzeugend und toll genug sind, um direkt veröffentlicht zu werden. Vor allem an sonnigen Tagen werden es eher melancholisch gemeinte als melancholische Songs. Diese Songs schiebt er auf seiner Festplatte in einen freigegebenen Dropbox-Ordner, auf den auch Leute wie Tim Bendzko und Philipp Poisel Zugriff haben, so ein Public-Domain-/Freeware-Ding gewissermaßen. Ein junger, lässig aussehender und Biotabak-rauchender Typ namens Patrick Richardt hat jetzt kürzlich das Kennwort von Bendzko gehackt und mit den Songs, die er da gefunden hat, ein Album veröffentlicht. Was ja genaugenommen gar nicht die allerschlechteste Taktik ist.
WIR HEGELN

FUNERAL SUITS - Lily Of The Valley (4)
Model Citizen
In der ersten Szene der ersten Episode der ersten Staffel der grandiosen Serie Stella streiten sich drei anzugtragende Jungs über die Unterschiede zwischen Funk-Rock, Funk-Rock und Funk-Rock. Diese Platte hier hingegen ist Electro-Rock, und du verschwendest deine Zeit, wenn du über eine genauere Klassifizierung nachdenkst, denn es ist weder She Wants Revenge noch IAmX, sondern eher von der mittelmäßig-langweiligen Infadels-Sorte, die in zwei Jahren vielleicht noch einen Glückstreffer landen wird als Soundtracklieferant für eine Teenie-Fernsehserie oder einen Fashion-Onlineshop-Werbespot, danach also finanziell ausgesorgt hat, aber trotzdem in der Versenkung verschwinden wird, Electro und/2oder Rock hin und/oder her.
ALAN BALL

2013-02

BEACH FOSSILS - Clash The Truth (5)
Captured Tracks / Cargo Records
2010 erschien das Debüt-Album, und es klang nach Lo-Fi und Reverb, und vor allem nach Gleichgültigkeit, und ordentlich fucked up auf so eine unabsichtliche Art. Im Prinzip wie ein chaotisches "Do Not Enter Here!"-Teenie-Zimmer im Elternhaus. "Clash The Truth" nun klingt im Gegensatz dazu ungefähr so, als wäre Mutti eingebrochen und hätte mal ordentlich aufgeräumt. Plötzlich sieht alles netter aus, freundlicher, riecht gut und wirkt so harmlos, als könnte ab sofort auch mal fremder Besuch kurz reingucken, ohne sofort in Schockstarre umzufallen. Leider ist das Zimmer jetzt eher für ein Ikea-Fotoshooting geeignet als für Lässigkeit.
COLE SCHMIDT

JAN ROTH - Lieder ohne Worte (7)
Edition No. 1
In einer Konzertankündigung hierzu findet sich tatsächlich der unentschuldbare Mistbegriff "musineastisch". Und die "Lieder ohne Worte" sind zwar durchaus verkopft frickelig, wunderbar geeignet für Wintersonntage im Kreis potentiell musikschulen-akademischer Bartträger, auf eine angemessene Weise verschroben und weird, klingen nach Island und Miranda July und Ernst Horn und Sinnbus, fallen nur ganz selten aus dem melancholischen Elektroklavier-Rahmen, schnarren und gluckern und eiern so vor sich hin, daß einem vielleicht wirklich GANZ kurz der Begriff "Kopfkino" einfällt: aber dann doch wirklich und echt und ausdrücklich nur zur Abgrenzung von anderen Quatschrezensionen. "Musineastisch", ey. Ich glaub', ihr spinnt.
BRÜH WÜRMCHEN

LOST ANIMAL - Ex Tropical (3)
Hardly Art / Cargo Records
Würde Jarrod Quarrell nicht diese eher spezielle Art von Dreampop-Electronik machen, die schon viel zu lang viel zu gut ankommt in einer Szene, die genervt ist von zuviel Dreiecken im Witch-House und zuviel Sprechgesang im Hip-Hop; wäre "Ex Tropical" also eine Platte, die weniger harmlos und freundlich ist; wäre man beim Hören wenigstens verwirrt angesichts einer Unverständlichkeit und nicht angesichts dessen, daß es hier gar nichts weiter zu verstehen gibt als plätschernde Drumcomputer-Synthie-Arrangements; will sagen: wäre das hier, wenn schon oberflächlich, ein bißchen mehr Adriano Celentano oder wenigstens Tom Jones, dann hätte es sich glatt auf einen Gnadenpunkt mehr hocharbeiten können.
DE LILAH

RETRO STEFSON - Retro Stefson (5)
Les Frères Stefson
Wenn dir beim Hören dieser Platte im Kopf Aerobic-Videos der 1980er Jahre erscheinen, also diese kurzen Tele-Gym-Clips vor und nach dem ZDF-Kinderprogramm, die dann zeitweise zu "Breakdance"-Sendungen mit Vortänzer Eisi Gulp wurden; wenn du also trotz der Gitarrenparts ("sie hatten sich stets redlich bemüht") eigentlich nur noch an Stirnbänder und komische Frisuren und an Eva aus der Parallelklasse denkst, die damals diese heißen Leggings trug (und tragen konnte!); wenn du also vor lauter Retro Stefson am Ende beim Wikipedia-Eintrag von Eisi Gulp landest und beschließt, gleich mal alte Breakdance-Platten rauszukramen anstelle dieser da gerade immer noch laufen isländischen Beliebigkeit; -- dann ist das vermutlich ein eher schlechtes Zeichen für die Retro Stefsons, wa?
WERNER EISENRIEDER

SALLIE FORD & THE SOUND OUTSIDE - Untamed Beast (8)
Fargo Records / Indigo
Auf dem Cover dieser Platte, so wie sie im Laden steht, sitzt eine barbusige Frau mit monströsem Ziegenschädel-Skelett vor dem Gesicht und zwei Kugeln Vanilleeis in der Hand auf einem Antik-Stuhl im Wald. Würde ich diese Platte zufällig finden, wäre das mindestens ein Reinhör-, fast schon ein Blindkauf-Grund. Derjenige, der die Entscheidung getroffen hat, uns Journalistenfuzzis dieses Bild vorzuenthalten und statt dessen die Promoversion lediglich mit Bandname, Titel & Label groß auf weißem Hintergrund zu gestalten, versteht nichts davon, wie Promo funktioniert. Nichts, sage ich!
AMANDA FACEPALMER

SANDRA KOLSTAD - (Nothing Lasts) Forever (6)
Trust Me / Phonofile
Was eventuell drinking-game-Potential hat: in Reviews dieser Platte mitzählen, wie oft Austra, Fever Ray, Karin Park oder iamamiwhoami genannt werden. Spätestens nach dem vierzehnten Schnaps ist der Klarheits-Level dann so hoch, daß man alle genannten Referenzen ignorieren kann und sich statt dessen zusammen mit den anderen Stimmen in seinem Kopf auf eine Formulierung einigt wie "Röyksopp mit DAF-Beats plus Little-Boots-Vocals". Wenn der Kater dann nachlässt, am übernächsten Tag, zieht man wieder zwei Begeisterungspunkte ab (denn nüchtern ist alles doofer), übrig bleibt aber immerhin Electropop, der nicht beim dritten Track schon langweilt. So haben ja Depeche Mode angeblich auch mal angefangen.
THE KNIFE OFF BRIAN

YOUNG DREAMS - Between Places (3)
Modular
Ach, Indiepop. So mühsam wie mit dir war das auch noch bei keiner Genrebezeichnung. Nachdem du schon eine Weile als Spottzuordnung herhalten mußtest, hättest du doch eigentlich elegant von der Bildfläche verschwinden können. Zielloses Herumgeeiere bezeichnend, ideenlose weder-noch-Musik, deren Gehalt sich irgendwann auch nur noch mit "klingt wie .."-Floskeln beschreiben ließ, wenn hier wieder eine "neue" Platte auf dem Tisch landete, die irgendwo zwischen Portland und Brooklyn und London von sorgenlosen Vollbartträgern hergestellt wurde. Aber da eben kein Nachfolger für dich in Sicht ist, weder zwecks Lobpreis noch als Verachtung, muß du eben schon wieder ran: diese Platte ist öder Indiepop, der, wenn er mal groß ist, vielleicht kurz an Animal Collective riechen darf, im präpubertären Stadium wie jetzt gerade aber nur einen sehr, sehr tristen Beach-Boys-Abklatsch mit Teenie-Weltschmerz darstellt. Kirchentagsmusik.
ART GARFIELDING

2013-03

AND SO I WATCH YOU FROM AFAR - All Hail Bright Futures (5)
Sargent House / Cargo Records
Damals, zu Zeiten von Bildschirmtext (bitte fragt eure Großeltern), gab es ja sehr viel mittelseriöse Firmen, deren Name auf einmal mit "A A A A" begann. Die Taktik ging zwar auf, aber nach Bildschirmtext kräht heutzutage kein Hahn mehr. Sogar Trail Of Dead haben inzwischen verstanden, daß niemand im Laden bei A anfängt zu suchen (geschweige denn zu Besuch beim Plattensammler nebenan, dort sind die A-Bands sowieso nur mit Trittleiter links oben im Regal erreichbar) – will sagen, im Jahr 2013 kann eine Band noch so originell gniedeligen Mathrock machen: wenn ihr Name so scheiße (und dann auch noch zu lang) ist wie dieser hier, wird sie über die blinde Fangefolgschaft hinaus echt keine Zielgruppen-Zufallstreffer mehr landen. Schlage irgendwas mit H bis S vor. Oder wenigstens was mit Delphinen oder LSD.
BLACK EMPEROR

BORED NOTHING - Bored Nothing (7)
Spunk / Coöperative Music
Man erschrickt ja regelrecht, wenn man im Jahr 2013 eine "Indie"-Platte in die Finger bekommt. (Kids: das, was ihr "Indie" nennt, also Binge-Drinking-Abende mit einem Soundtrack von Maximo Park (zum Knutschen), The Killers (zum Hüpfen) und Jeans Team (zum Ironischgucken) in einer Rock-Disco mit Drinks für €7, dieses "Indie"-Ding also ist vermutlich legitim, aber eben doch irgendwie ziemlich dämlich). Bored Nothing jedenfalls ist ein Typ, der seine erste Platte komplett allein runtergerotzt hat, dabei klingt, als hätte er in seiner Jugend ordentlich viel Pavement und eigentlich auch Shellac gehört und dann trotzdem drauf geschissen. Und wie jemand, der nie €7 für einen Drink bezahlen würde. Songs, die nicht lo-fi klingen wollen, sondern es unabsichtlich tun, beiläufig: sowas macht Eindruck auf Papa.
LASSIE G

BORN RUFFIANS - Birthmarks (3)
Yep Roc Records / Rough Trade
Kennst du das, wie Klugscheißer über Musik reden? Also über alles außer Gefühl und Wahrnehmung, sondern nur über Struktur und Konzept? Was ungefähr so anstrengend ist wie deine Freunde, die jeden Sonntag Tatort gucken und es dabei nur noch um das Konzept Tatort geht, und längst nicht mehr darum, ob dieser Fernsehkrimi gut oder scheiße ist (meistens ist er scheiße, aber das nur am Rande)? Kannst du dir vorstellen, wie irritiert ich bin, wenn ich eine Platte höre, die exakt gar nicht nach Herzblut und Idee klingt, sondern schon von vornherein so, als würde sie sich nur an Musikwissenschafts-Klugscheißer richten, als wäre sie absichtlich völlig konfus und wirr verkopft geraten, als hätte die Band da kein Album abliefern, sondern ein Problem lösen wollen? Eben.
ROSES SCHNEIDER

JAVELIN - Hi Beams (4)
Luaka Bop
Bei der Recherche (das nennt man so, echt!) zur Review dieser Platte musste ich den Halbsatz "will nicht mehr niedlich sein" googeln. Das Internet hat daraufhin behauptet, dass vor allem Eva Habermann, Justin Bieber, Mena Suvari und Nelly Furtado nicht mehr niedlich sein wollen. Ich bin meistens nicht vollständig einer Meinung mit dem Internet, aber in diesem Fall geht es in die richtige Richtung – und ich möchte der Liste derer, denen weniger Niedlichkeit echt gut stehen würde, - Electropop und Hipsterfunk hin oder her - aber unbedingt noch dieses Album anfügen. Hiermit.
NELAF NEPAL

OKTA LOGUE - Tales Of Transit City (8)
Columbia / Sony
Bei fast jeder anderen Platte, die nach Soundtrack zu einem Californication-Staffelfinale klingt, nach so einer Mischung aus Prog-Gemuckel für Harley-Davidson-Fahrer und Liebeskummer-Songs für Erwachsene, nach lockerem Bekifftsein am Lagerfeuer, - bei fast jeder anderen Platte dieser Art dürfte man maximal 6 Gnadenpunkte vergeben, selbst bei auffällig guten Exemplaren, weil diese Nummer eben einfach durch ist und seit 20 Jahren nichts mehr bringt, was auch nur halbwegs erstaunt. Okta Logue hingegen ziehen diese Masche nicht nur außerordentlich super durch, sondern kommen auch noch aus dem hessischen Hinterland, bekommen also gewissermaßen Bonuspunkte für aus musiksozial schwachen Gegenden stammende Kinder. Und davon mindestens zwei. Unter der Voraussetzung, dass mit "Transit City" nicht Frankfurt gemeint ist. Das wäre zuviel des Schlimmen.
ATTICUS FETZ

PTTRNS - Body Pressure (3)
Altin Village & Mine
Wäre ich ein Ähnlichkeits-Algorithmus, – also so einer, der anhand von Kaufgewohnheiten, Facebook-Likes oder auch nur aus Langeweile Kulturgüter empfiehlt, die jemandem gefallen könnten, müssten, sollten – ich hätte ein ernstzunehmendes Problem, diese Platte in meinen Katalog aufzunehmen. Klingt zwar wie ein schiefgelaufener Produktionsbastard einer Fuck-Buttons-Kopie, also genauer gesagt wie eine sehr sehr öde Hot-Chip-Remix-EP, aber die Zielgruppe dieser beiden Kapellen sind ja auch echt schon genug gestraft (die einen, weil seit 2009 nichts neues mehr kommt, die andere generell und kategorisch). Da mag man dieses Kölner-Kunststudenten-Machwerk wirklich nicht noch draufsetzen. Darf ich vorstellen: der erste Ähnlichkeits-Empfehlungs-Algorithmus mit Empathiemodul. Dafür ohne Label-Provisionszahlung. Na ja.
MEINHERZ GLIMMT

RILO KILEY - RKives (5)
Little Record Company / Cargo Records
Für so ein B-Seiten-/Raritäten-/Demo-Ding, das erst nach dem Bandsplit auf den Markt kommt, beginnt das hier hier ja ganz vielversprechend: "Let Me Back In" klingt nach einer angenehm schrulligen Kopie von The Walkabouts, und auch die paar folgenden Tracks sind nett kantig und zwar irgendwie Indie-Pop, aber doch von der Sorte, dass man nach ein paar Minuten vergessen hat, wer Shirley Manson ist. Nach den previously-unreleased-Perlen, so ab Track 7 ungefähr, geht dann allerdings das Country-Gegniedel los, bei dem man an Fairground Attraction denkt und an Frauen in Lederstiefeln (und ich meine hellbraune Cowboy-Lederstiefel, keine schwarzen Lack-Overknees). Bis zu den wirklich schlechten Ex-Demos mit Konsens-R'nB-Subtext plus Billig-Drumcomputer-Beat (featuring jemanden namens "Too $hort") kommt man dann zum Glück gar nicht mehr.
FEN RITZ

THE GROWLERS - Hung At Heart (7)
Fat Cat Records
Was viele nicht wissen: die Eltern von The Black Keys und The Walkmen hatten in den 60ern so ein Surf/Psych/Folk-Ding namens The Growlers, produziert von (einem zugegebenermaßen sehr jungen) Vincent Gallo. The Growlers wiederum waren Vorbild für Marvin Berry and The Starlighters, die Band aus Back To The Future, innerhalb der Marty McFly bei "Earth Angel" seine Bluesrock-Gitarrenkünste demonstriert. All das wissen viele nicht, weil es gerade von mir erfunden wurde. Aber es KÖNNTE sein!
CURTIS WILLIAMS

THEY MIGHT BE GIANTS - Nanobots (4)
Lojinx
Was unsere Eltern wohl als "irgendwie schräg" oder sogar "ganz schön pfiffig" bezeichnen würden, mal abgesehen von scharfen Soßen oder Fashion-Blogs: diese Platte. Eine Band, die seit 30 Jahren im Prinzip immer wieder das gleiche macht – Nerd-Rock, also eher kurze Songs, die primär auf Schrulligkeiten basieren – muss aber, andererseits, auch damit klarkommen, daß man 30 Jahre alte Begriffe zur Bezeichnung ihres Sounds verwendet. Wären wir unsere Eltern, würden wir Nanobots vielleicht sogar hörbar finden. Oder wenigstens schräg.
FRÄULEIN OPHELIA

2013-04

ANDREW WYATT - Descender (3)
Downtown
Profitipp für lange nächtliche Autbahnfahrten, bei denen Fahrerschlaf droht: im Radio irgendeinen Schlagersender einschalten und zu ausnahmslos jedem Song sehr laut die Lyrics von Grauzones "Eisbär" mitgröhlen. Das funktioniert nicht nur in Sachen Versmaß ganz erstaunlich gut bei knapp allen Songs, die jemals geschrieben wurden, sondern es macht die meisten dieser Songs sogar erträglich. Mal ganz davon abgesehen weiterhin, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, in einen Brückenpfeiler zu fahren. Mit dieser Platte hatte ich das kürzlich auch versucht, aber da hat dann doch der Brückenpfeiler gewonnen. Gegen manche Sorten Langeweile kommt eben auch so eine Taktik eben nicht an.
HANS RAUM

HONNINGBARNA - Verden Er Enkel (6)
Gordeon
Wenn die Vocals klingen, als würde jemand die Einbauanleitung einer Küche runter-shouten, wenn die Gitarren so viel Strom verbraten wie ein mittelgroßes Bitcoin-Mining-Rig, und dann noch an einigen Stellen heraushörbar ist, wie lang der Drummer schon nicht mehr beim Friseur war: das möchten wir ab sofort bitte "norwegen" nennen. Anwendungsbeispiel: diese Platte norwegt hart.
DØRK VON OSLOW

HOODED FANG - Gravez (4)
Full Time Hobby
Es hätte eine ganz nette Platte sein können, die man unvoreingenommen mit Surf-Twang-Shoegaze-Zeug aus Toronto bezeichnet hätte und der man dafür irgendwas zwischen 6 und 7 Punkten verliehen hätte, je nach Tagesform. Aber dann liest man in einem Interview mit Band-Chefkopp Dan Lee als Erklärung für den Plattentitel "it may refer to the impending lurk of death", also ungefähr das stulligste Musikerzitat seit sehr vielen Wochen. Daraufhin verkneift man sich gerade noch einen Rant über sich für Philosophiechecker haltende Gitarristen, zieht ein paar Punkte ab und denkt sich irgendwas mit "dot tumblr dot com" am Ende. Which may refer to the impending lurk of bullshit, or not.
KURT LOADER

LITTLE BOOTS - Nocturnes (2)
On Repeat Records
Das Internet und Max Goldt haben mir mal erklärt, dass sowohl bei Tragik als auch bei Komik ein Unterschied entsteht zwischen dem, was geschehen sollte, und dem, was eigentlich geschieht - und dass der nennenswerte Unterschied nur der ist, dass im Tragischen ein Leiden passiert und im Komischen eine Torheit. Nach dieser Definition jedenfalls sind nicht nur die Existenz von Mario Barth oder Carglass-Radiospots in beide Kategorien einsortierbar, sondern auch die Kylie-wannabe-Torheit namens "Nocturnes" der noch vor wenigen Jahren so niedlich mit Synthpop, Einhörnern und DIY-Ästhetik kokettierenden Little Boots, die von einem Leiden namens Hörschmerz meinerseits ergänzt wird. Best of both worlds, gewissermaßen.
CARLTON BANKS

LUXURY LINERS - They're Flowers (5)
Western Vinyl
Stellenweise interessanter bis teils arg belangloser Versuch eines normalerweise eher auf Gitarrenmusik gepolten Musikers – Carter Tanton (Lower Dens) – mit bare-bones-Elektronik (aka Laptop) klarzukommen und sich vermutlich irgendwie musikalisch nochmal neu zu erfinden. Hätten wir einen höheren Gaga-Anspruch, müssten wir es Metapher über Selbstbeschränkung und Neuorientierung nennen. Also Befreiung von den Ketten der Selbsterwartungshaltung und dieser ganze Käse. Ändert aber auch alles nichts daran, dass die gesamte Elektronik trotz gewisser Originalität eigenartig deplatziert wirkt und der junge Mann auf dieser Platte herumeiert wie auf dem Verkehrsübungsplatz der Popkultur. Mit defektem Blinker.
RUDY HUXTABLE

NO JOY - Wait To Pleasure (7)
Mexican Summer
Genderism-P.C.-Kram, Twitter-Aufschrei-I mal hin und/oder her: der Begriff "Mädchenmusik" bezeichnet ja normalerweise eher fluffig-nette, harmlos gemeinte Konsensmusik, die bei tumblr mit positiven einsilbigen Grunzlauten ("aww!") bedacht wird. Da No Joy jetzt aber eine sogenannte Girlgroup sind und mit Wait To Pleasure gewissermaßen die Mädchenversion einer Platte von A Place To Bury Strangers abliefern, und dazu noch eine verdammt gute – da die "Mädchenmusik"-Definition jetzt also umgeschrieben oder erweitert werden müsste, stehe ich hier vor einem Begriffsdilemma, das sich innerhalb einer einzigen Quatschrezension leider auch nicht mehr lösen lässt. Falls du damit leben kannst, besorg' dir diese Platte. Oder meinetwegen auch Plattin.
STIMPY REN

WAMPIRE - Curiosity (8)
Polyvinyl Records
So eine Art krummgestimmter Latenight-Pop, von erfrischend bart-losen enge-Jeans-Trägern. Das beste Crossover aus Synth und Postpunk, das du in diesem Jahr hören wirst. (Aber jetzt mal Ernst beiseite: gute Musik macht es einem ja echt schwer, kleine originelle Quatschtexte als Rezensionen zu verkaufen. Irgendein innerer Drang zwingt einen dann dazu, sich wirklich zur Platte zu äußern, geradezu ernsthaft über Genre-Zuordnungen und Szenen, über Originalität, Komposition und Dramaturgie zu schreiben, anstatt über private Anekdoten, die mit ein bis drei zotigen Nebensätzen und latent wirrer Zeichensetzung plus völligst willkürlicher Beschulnotung versehen werden. Will sagen: Verdammt, Wampire, eure Platte ist wirklich SO gut, dass mir das fast schon wieder passiert wäre. Hab' dann aber zum Glück gerade noch die Kurve zur Meta-Ebene bekommen.)
HEIL ZALGO

2013-05

BASS DRUM OF DEATH - Bass Drum Of Death (5)
Innovative Leisure
John Barrett ist vermutlich noch keine 30, deswegen kann Altersmilde – als Rechtfertigung für die Müdigkeit im Vergleich zum Debütalbum – eigentlich noch nicht richtig greifen. Mit dem Erfolg kommt dann aber offenbar auch die Zugänglichkeit, also andersrum, und so ein bisschen mehr Titus Andronicus anstatt Jay Reatard im Subtext bringt dann eben doch mehr Fashionpunks zu den Konzerten, die Light-Kippen rauchen oder beim Friseur "kürzer, aber nicht zu kurz" sagen. Reverb und Noise für Leute, die Reverb und Noise "ja irgendwie ganz gut finden". Aber das Debüt-Album knallte echt irgendwie mehr.
SCARLETT O'HAIRA

HOUNDMOUTH - From The Hills Below The City (3)
Rough Trade
"I'm on the road, I'm sinking solely, I bought a book, I will read it slowly". Alter. Das Folk-Ding ist jetzt also auch im Blues angekommen, respektive umgekehrt. Leider nicht im würdevollen Blues mit Stil und Whisk(e)y und Herzkram, sondern im Jammertal für Endvierziger, die mit Hammond-Orgel von "früher war alles irgendwie einfacher" seufzen und auf Dating-Portalen einen "ehrlichen, treuen und humorvollen" Partner suchen. Und das mit dem Pferdestehlen vermutlich sogar wörtlich meinen.
LENNART SKENNART

IS TROPICAL - I'm Leaving (3)
Kitsuné
Nimmt man sich als Band sowas eigentlich explizit vor? "Auf unserer nächsten Platte möchten wir jetzt mal so klingen, als würden Bloc Party und Blur zusammen eine echt superbelanglose Platte produzieren"? Oder bemerkt man es wenigstens am Ende selbst, wenn man fertigproduziert hat und sich das Ding vor der Veröffentlichung nochmal anhört? Also vielleicht koch kurz bevor man wieder die "Wir brauchen ein Knaller-Video, das vom Luschi-Sound ablenkt, am besten was mit Titten und so!"-Reissleine zieht, um Musikblogger zu beeindrucken? Erklären würde das ja wenigstens .. ach, nein, erklären würde das eigentlich überhaupt nichts.
EIM RANNING

MAPS - Vicissitude (2)
Mute
Dass man beim Suchbegriff "Ödnis" von Wikipedia ganz lapidar auf "Wüste" umgeleitet wird, halte ich ja für wirklich unangemessen. Schließlich bezeichnet Ödnis nicht nur "vegetationslose Gebiete", sondern auch kognitive Kargheit, intellektuelle Leere quasi. Also auch Fernsehprogrammlangeweile oder psychogeographische Wahrnehmung in großen Einkaufszentren. Da fehlt doch die ganze Poesie des Begriffs, dear Wikipedia. Der lähmende, melancholische, enttäuschende Subtext. Das lähmende Gefühl von irgendwo vorhandenem, aber nicht genutztem Potential. In Verbindung mit groß-gemeinten Gesten. Wie hier bei dieser Platte beispielsweise.
ÖDIE ARBUCKLE

THE BAPTIST GENERALS - Jackleg Devotional To The Heart (6)
Sub Pop
10 Jahre hat's angeblich gedauert, bis dieses zweite Album erschien. Das erste kenne ich nicht, aber in Sachen Timing habt ihr Labelmenschen ja echt einen Klogriff gelandet – das hätte man dann doch wirklich mal besser in einem Sommer rausgebracht. Also jedenfalls nicht in einem Jahr, in dem auf Winter direkt der nächste Herbst folgt. Musik, die zur Hälfte anstrengend gniedelig wie Bob Dylan klingt, zur anderen Hälfte aber lässig reduziert und folkig wie fast alles außer Bob Dylan – solche Musik funktioniert ja eigentlich nur sommerabends mit den richtigen Drinks im Vorder- und den richtigen Leuten im Hintergrund. Ja, find' ich jetzt leider auch blöd. Kram' ich dann aber 2014 gern nochmal raus.
TWO GIRLS ONE REGENCAPE

2013-07

ABOUT GROUP - Between The Walls (3)
Domino
Fun fact: "Supergroup" heißt nicht zwangsläufig, dass beim Zusammenschluss verschiedener Zweite-Reihe-Musiker ("bekannt von der Triangel-Synkope im Bonustrack des dritten Albums von The Gniedels") ganz automatisch eine Super-Platte entsteht. Manchmal klingt das Ergebnis eher wie ein Flickenteppich der Sorte "hängt hier aus reiner Höflichkeit an der Wand, weil's die Schwiegertante vom Selbstfindungsurlaub aus Mexiko mitgebracht hat". Die Jungs von – u.a. – Hot Chip, This Heat oder Spiritualized hätten sich so ein Ding in ihren Hauptprojekten jedenfalls nicht getraut zu veröffentlichen, "Soul-Pop-Blues-Avantgarde" hin oder her.
WRONG CARWHY

BARBAROSSA - Bloodlines (8)
Memphis Industries
Es ist ja meistens auch der Kontrast, also der Unterschied, zu dem vielen anderen Mist, der einen bei guten Dingen umhaut. Also: nicht die Qualität an sich, sondern das Unerwartete daran. Die erste Ableitung von Geilheit. Bloodlines ist so ein Ding, das völlig aus der Deckung heraus, musikalisch aus einer "müsste man eigentlich scheiße finden"-Ecke kommend, und dann auch noch situativ überrascht: kennt keiner & klingt eigentlich nach softem Cocktail-Soundtrack für Strandbars, und nach Sommer. Klingt aber so versöhnlich, so smooth gratwandernd zwischen Kitsch und Indietronic für Hipsterbrillenträger, wirkt so angenehm gut, dass ich mich echt frage, ob das Altersmilde meinerseits ist oder die Platte eben doch wirklich so gut. Im Zweifel natürlich immer letzteres.
WHAM P. EIER

CSS - Planta (2)
SQE
"You can turn me on and I will never turn on you", ungefähr einer Minute nach Beginn der Platte, ist dann leider schon die originellste Zeile auf dem ganzen Album. Die restlichen 10 Tracks bestehen aus zusammengewürfelten Uralt-Dance-, Dub- und Rihanna-Zitaten, Steilvorlagen für Verrisse und eigenartig ideen- und belangloser Stil-Schwurbelei. Geht zwar nur 40 Minuten, geht aber nach 10 davon schon echt auf die Nerven.
MALTO DEXTRINCHEN

GAUNTLET HAIR - Stills (5)
Dead Oceans
Da hatten zwei Jungs also einen guten Einfall: eine Platte zu machen, die New Wave Pop und Postpunk auf eine halbwegs originelle Art verbindet, ohne allzu sehr, aber doch wenigstens ein bisschen, nach Joy-Division-Drums und The-Gutter-Twins-Vocals zu klingen. Und dann kam ihnen, vermutlich, irgendein Termin dazwischen und die Platte konnte nicht fertigproduziert werden. So jedenfalls klingt das, wenn aus ein paar Tracks ordentliche, gute, stellenweise sogar sehr gute Songs wurden, und aus dem Rest eher fragmentarische Fingerübungen mit auf 3 Minuten getreckter Stimmungs-Idee und sonst nicht viel mehr. Hätte, hätte, Lichterkette.
BECKS BENNIE

KIRIN J CALLINAN - Embracism (8)
Terrible Records
Eigenartige, verschrobene, skurrile, originelle, verstörende, bizarre Platte, von einem Australier, dem man auch nach dem zehnten Hör-Durchgang immer noch zutraut, nicht mehr alle Latten am Macchiato zu haben, musikalisch wie textlich. Kein eindeutiges Genre, kein einzelner Stil, kein passender Vergleich: sehr gute Zeichen!
BLIXA KARTE

KISSES - Kids in L.A. (4)
Splendour
Wie nennt man das doch gleich, wenn Ironie schiefgeht und der Subtext nicht verstanden wird? Ah ja: "Mist". Jedenfalls auf Sender-Seite. Laut Begleitschreiben möchte sich Kids in L.A. irgendwie kritisch mit ebendieser Szene privilegierter Kids auseinandersetzen, klingt daber aber wie eine Platte, die privilegierte L.A.-Kids vermutlich total dufte finden und nachmittags am Pool nebenbei hören. Mit so 'ner Mischung aus Humor- und Belanglosigkeit passt die Platte musikalisch aber auch echt besser dort- als sonstwo-hin. Küsschen.
VORNAME NACHNAME

SHIKO SHIKO - Best New Bestiole (5)
Platinum Records
Wir müssen uns Shiko Shiko als eine glückliche Band vorstellen. Die gut 30 Minuten Math-Rock, oder das, was die Band dafür hält, klingen immerhin so, als hätte man bei der Produktion ordentlich Spaß gehabt. Wenn ich die "scheiß drauf, was der Hörer davon hält"-Einstellung richtig interpretiere, gibt das zwar Lässigkeits-Pluspunkte – musikalisch funktioniert das aber live bestimmt besser als auf einer Platte, die einen nach diesen 30 Minuten irgendwo zwischen ratlos und genervt zurücklässt.
STEND BEIMI

STELLAR OM SOURCE - Joy One Mile (5)
RVNG Intl.
In einem Paralleluniversum, in dem große und trotzdem gut sortierte Plattenläden noch existieren, hätte der Mitarbeiter-Auskenner diese Platte im Techno-Regal einsortiert. Ein paar Tage später hätte sie dann ein Musikgeek dort rausgenommen, im Nebenregal bei den House-Sachen dazugepackt, wo sie dann ein Ibiza-DJ beim Massen-Durch-/An-hören für langweilig, oder im besten Fall für retro gehalten und sie dem dort arbeitenden Praktikanten wieder in die Hand gedrückt hätte, der mit dem Warenwirtschaftssystem nicht klarkommt und die Platte kurzerhand unter "Weltmusik / Verschiedene" ablegt bis zur nächsten größeren Inventur. So wäre das Ding durch die Regale gewandert, aber jahrelang nie verkauft worden. Und es gibt Menschen, die würden aus diesem Stoff jetzt ein SciFi-Drehbuch machen.
PAZIFIK ROM

TOKYO SEX DESTRUCTION - Sagittarius (5)
BCore Disc
Herrschaften. Ihr nennt euch allen Ernstes Toky Sex Destruction, und macht kein verstörendes Noise-Zeug, keine abgefahrenen Free-Jazz-Industrial-Songs, keinen Black Metal und noch nicht mal irgendeinen angehipsterten Kram mit Dreiecken und umgedrehten Kreuzen plus Animé-SciFi-Artwork? Statt dessen lieber dieses 60s-Psychedelic-Ding, das nach den Bühnenschwagern der Rolling Stones, nach Freiheit auf dicken Motorrädern und nach Bass-Solos bei Liveauftritten klingt? Ich bin enttäuscht. Ernsthaft.
TRANCE PIRANT

WASHED OUT - Paracosm (7)
Domino
"Chillwave ain't dead, it's just been out surfin'", sagt das Internetz. Dem Beach Pop ehrenhalber traut in diesem Fall man das wackelfreie Stehen auf einem Surfboard vor lauter Bekifftheit zwar nicht ganz zu, man kann ihm aber immerhin anrechnen, dass man den sonnenverbrannten Instagramfilter aus jeder einzelnen Notenpore heraushört. Würde ich nicht gerade so tiefenentspannt den Sonnenuntergang anlächeln und mir Bikinizeitlupen zusammenfantasieren, würde mir jetzt vielleicht auch noch eine Pointe einfallen. Musik für Menschen, denen vieles egal ist. In a good way.
RUMS MURMEL

WAX IDOLS - Discipline + Desire (5)
Slumberland Records
Der Paketbote, der uns regelmäßig das Vinyl in die fünfte Etage schleppt, hat ein paar Tattoos auf dem Arm und ein Piercing im Gesicht, deswegen wird er immer liebevoll "unser Postpunk" genannt. Aber ich befürchte, er hört eigentlich ganz andere Musik. Irgendwas tragisches mit Mehrzweckhallenatmosphäre und Konsens. Vielleicht schenke ich ihm bei der nächsten Gelegenheit mal diese Platte, die so gratwandert zwischen Wannabe-The-Smiths und angenehm akzeptablem GothPop. Das das auf einer anderen Ebene auch eher wie Konsenskram klingt, was wiederum das größte Problem des Albums ist, muss ich ihm ja nicht verraten. Interessiert ihn ja sicher auch gar nicht.
DEAD BEATE

2013-08

HIS ELECTRO BLUE VOICE - Ruthless Sperm (7)
Sub Pop
Stell' dir einen Filmriss vor. Nein, besser: stell' dir den Zeitraum kurz vor einem Filmriss vor. Mit kurzen Szenen-Schnitten wie in einem dieser Indie-LowBudget-Filmchen, mit Killing Joke und Uralt-NIN als Soundtrack, aber in einem ganz verwaschenen Shoegaze-Kontext, also Kellerbar und Strobo und Verlust der Selbstachtung und Schnaps und Diskussionen über bescheuerte Bandnamen und über Meerschweinchen. Und mit Sätzen, die mittendrin abbrechen. Und nach dem Filmriss dann kannst du dich an nichts davon mehr erinnern, aber ahnst irgendwie, dass es vermutlich ganz gut war. Und laut, vor allem laut.
'SUP BOB

KUNDEKOENIG - Don't Call (3)
17records / ZickZack Platten
So ein gewisser Grund-Dilettantismus – also als Gegenteil von Überproduktion und Perfektionsmus und Glattheit – hat ja durchaus seinen Charme. Das gilt, liebe Nachwuchsbands, aber nur, wenn man sich dabei nicht völlig ernst nimmt: also nur, wenn ihr den schrägen Gesang und die eigenartige Instrumentierung nicht als Statement seht. Ihr wolltet gewissermaßen geiles StreetFood anbieten, seid aber leider ein Öko-Reformhaus mit absurden Laden-Öffnungszeiten geworden. Das solltet ihr ändern, liebe Nachwuchsbands.
KING KRUDE

POP. 1208 - Imps Of Perversion (8)
Sacred Bones
39 Minuten Art-Punk für eine Zielgruppe, die Bettbezüge aus Schleifpapier benutzt und sich Chiliextrakt pur auf die Zunge träufelt. Also: das Ding, das bei Textzeilen wie "please nail my head to the wall / that's just how I like it" ganz gut rüberkommt. Nicht so sehr ein langweiliger roher Lärm, sondern diese sexy Brutalität, Kompromisslosigkeit und Unberechenbarkeit, die sonst eigentlich nur Michael Gira hinbekommt – Lo-Fi als Notwendigkeit und Ausgangspunkt, nicht als kitschiges Stilmittel. Wenn Noise-Rock romantischer Vanilla-Sex im Himmelbett ist, dann ist Imps of Perversion der kurze gute Handjob in einer dunklen Seitenstraße.
DARIO RUSSO

SEBADOH - Defend Yourself (6)
Domino
Sebadoh haben Lo-Fi-/Shoegaze-/Indie-Legendenstatus, vor 14 Jahren das letzte nennenswerte Lebenszeichen in Albumform veröffentlicht, und klingen auf "Defend Yourself" im Prinzip immer noch exakt wie vor 14 Jahren. Das ist einerseits natürlich stinklangweilig, denn wir könnten uns auch einfach weiter die alten Sachen anhören. Andererseits aber eben super, denn heutzutage machen Bands ja eher diesen hippen überironisierten "Indie"-Scheiß mit Anführungszeichen. Früher war eben doch einiges früher. Mühle, ich hör' dich zwicken.
'K, MASCIS

SPLASHH - Comfort (6)
Luv Luv Luv
Die Begriffsklärungsseite der deutschsprachigen Wikipedia zum Stichwort "Kult" listet nicht nur religiöse Handlungen bzw. Bewegungen oder das kulturelle Phänomen "Kult (Status)" auf, sondern auch eine polnische Rockband dieses Namens – und vor allem auch den in Rheinhessen gebräuchlichen Begriff für eine Wolldecke. Ich bin der Meinung, das solltet ihr unbedingt wissen. (Splashh machen übrigens ganz netten Garage-Dream-Psych-Rock und klingen dabei so britisch, wie es jetzt im Spätsommer gerade noch erträglich ist – aber mit der besagten Wolldecke hat das jetzt natürlich nichts zu tun. Außer dem Titel "Comfort" vielleicht.)
WARNFRIED KOLTER

SUPERCHUNK - I Hate Music (7)
Merge
Während sich ein kleiner Teil des sog. "Internets" tagelang über die Definition des Punkbegriffs und dessen Anwendbarkeit auf Superchunk streitet; während sich ein anderer Teil versucht, originelle Assoziationen aus den Synapsen zu saugen zwischen dem Titel der Platte und ihrem Sound; während sich der restliche Großteil eher davon beeindruckt sieht, dass das zehnte Album nach rund 23 Jahren Bandgeschichte erstaunlicherweise noch immer so klingt, als hätte die Band echt Bock auf das, was sie da tut; während all diesem Gerede und Zerdenke und all dieser Analysiererei und Verkopfung: elf Tracks voll musikalischem Rock-Eskapismus, von dem sich beispielsweise die 2013er-Inkarnation Sonic Youths locker mal ein paar Scheiben abschneiden könnte. Ich sag' ja bloß.
EIDU TU

ZOLA JESUS - Versions (7)
Sacred Bones
Frau Danilova jagt ihre Vorgängerplatten "Stridulum II" und "Conatus" nochmal durch die Neuinterpretationsmaschine und nennt das ganze mitteloriginell "Versions". Allerdings remixt sie den Kram nicht nur an einem Samstagnachmittag mit Ableton Live, sondern an vermutlich mehreren Nachmittagen mit kleinem Streicher-Quartett und JG Thirlwell als Produzenten huckepack – was den ursprünglichen Goth-Pop einerseits schwer wiedererkennbar macht (mal abgesehen vielleicht von der Stimm-Markanz), und andererseits in so eine eigenartige Kunst-Ecke schubst, wo eigentlich Bands wie These New Puritans schon längst platzhirschen. Frei von Erwartungshaltung, Original/Remix-Subtext, Szenen-Zugehörigkeits-Gedöns und Kunst-Vernissage-Zielgruppe aber klingt das Ergebnis dann doch mindestens so originell wie eine bessere Chelsea-Wolfe-Platte. Und das ist als Kompliment gemeint.
NIKO RAZA

2013-09

CRYSTAL STILTS - Nature Noir (5)
Sacred Bones
Die Anzahl der Zweiwortbands mit Crystal (Stilts, Antlers, Castles, Fighters) hat noch nicht ganz den Verwirrungsgrad der Black-Kollegen (Kids, Keys, Lips, Angels, und außer Konkurrenz natürlich Sabbath, Crowes, Flag & Föös) erreicht - die Kristall-Liga ist aber mit ähnlichen schnellen Schritten auf dem Weg hin zu frustrieren Ticketkäufern, falschbestellten Weihnachtsgeschenken und echt genervten Rezensionsschreibern. Ich beispielsweise hatte den Absatz über 8bit-Indiekram schon fast blind runtergetippt, bevor ich den Fehler beging, die Platte doch mal anzuhören. Und diese dann auch noch so unspektakulär klang, dass ich auf einen neuen Text doppelt keine Lust mehr hatte. Aber wenn ich bei Veröffentlichung der nächsten Crystal-Castles-Platte als allererster die Review präsentiere: das wird meine große Stunde!
BLACK ASTLEY

DR. DOG - B-Room (5)
Epitaph
Die Produktion einer Platte nicht auf die Perfektionsspitze zu treiben, nicht jeden einzelnen Pegel beim Mastering abzufeilen und nicht jede vernuschelte Silbe nochmal neu aufzunehmen: das, liebe Kids, nannte eure Oma salopp oder lotterig. Im Bestfall. Heutzutage nennt man das schlampig oder schludrig, wenn man nicht gerade Narrenfreiheit wie Gil Scott Heron hat, das ganze also eben nicht mehr als Stilmittel, sondern als anstrengende Faulheit durchgehen muss. Trotz Indie-Blues. Auf B-Room ist die Hälfte der Tracks eher hit, die andere eher miss, klanglich sind sie alle im extrem mittleren Egal-Bereich - bleibt dann rechnerisch also so oder so nur Mittelmaß übrig. Gil-Scott Heron hätte sich mit sowas nicht zufrieden gegeben.
SONIC HEDGEFUND

GOLDEN KANINE - We Were Wrong, Right? (7)
Glitterhouse
Zuletzt hatte ich dieses Gefühl bei der Neuentdeckung von Get Well Soon, damals noch mit viel Melancholie und wenig Bombast (sowohl die Band als auch ich): in Musik gegossene Herbstluft, während Dämmerungen spürbar, vor Konzerthallen und auf Heimwegen herumlungernd. Wenn die Trompeten und die Westerngitarren ganz schwerfällig abgefuckt im Hintergrund die Stimmung ergänzen, die von irgendwas zwischen Gebrechen und Leid und Wut und Ernüchterung erzählt, und von Doppelpunkten und Herzkram und Unzerstörbarkeit. Melancholie ist halt nicht nur verschmierte Goth-Schminke im Morgengrauen, sondern eher Hoffnung und Abgebrühtheit und Regen und Selbstverständlichkeit auf Augenhöhe. Diese Platte wird einen interessanteren Menschen aus dir machen.
GRONNI OPPER

NYPC - NYPC (4)
The Numbers
Konfuzius behauptet, fünfköpfige Bands könnten sich gern mal auf Duos gesundschrumpfen und dann noch viel origineller als vorher "frisch und zukunftsweisend ihren Sound finden", am besten direkt auch mit neuem Namen. Konfuzius hat keine Ahnung. New Young Pony Club machen auch zu zweit noch eine öde Version dessen, was beim ersten Album allen Ernstes mal "Punk Funk" genannt werden wollte: Musik von der Sorte, wie sie bei FashionWeek-Showcases als Hintergrund-Entertainment gebucht wird.
ECLAIRE BÄR

OF MONTREAL - Lousy With Sylvianbriar (8)
Polyvinyl
Kevin Barnes hat sich wahrscheinlich einen Dreck darum geschert, ob Bedarf da ist nach einem völlig aus der Zeit gefallenen Album, das so sehr nach 60s und 70s und Bowie und Stones klingt, wie es die 60s und 70s und Bowie und die Stones selbst gern irgendwann mal hinbekommen hätten. Kevin Barnes hat sich an einen 24-Track-Tape-Recorder gesetzt und losgelegt, eine Platte abgeliefert, die einen stellenweise kniefall-begeistert ("The Sirens Of Your Toxic Spirit") zurücklässt, mit fast allen anderen Songs aber immerhin auch mindestens beeindruckt angesichts all des bekifften Wahnsinns und der verschiedenen Arten von musikalischer Entrücktheit. Kevin Barnes wird spätestens in ein paar Jahren unangreifbare, kritikresistente, gute, wichtige Musik abliefern und ungefähr 2040 so unsterblich sein wie Bowie oder die Stones. Und deswegen ist es wirklich vollkommen egal, was ich hier heute dazu schreibe.
SCHORSCH BATAILLE

OH LAND - Wish Bone (5)
Federal Prism
Eigentlich ist "Wish Bone" gar nicht aktiv schlecht. Nur wirst du beim Hören die Assoziationen mit Lana del Rey, Lykke Li, Regina Spektor und Little Boots (also: allen auf einmal, gleichzeitig, nicht mit einer davon allein) nicht aus deinem Kopf bekommen. Und genausowenig die Vorstellung, dass das diese Art von Musik ist, bei der während dem Konzert (Beginn: 19 Uhr) Fotos mit iPads gemacht werden. Vielleicht komme ich aber auch so langsam in ein Alter, in dem ich Pop einfach nicht mehr verstehe. Noch nicht mal meta.
ROBIN SCOTT

PICK A PIPER - Pick a Piper (4)
City Slang
Pick a Piper ist das Solo-"mir ist langweilig"-Projekt des Caribou-Drummers Dan Weber. Und alles, was Caribou anstrengend macht – lange Percussionparts ohne Höhen und Tiefen, noch nicht mal mit hypnotischer Manie im Subtext, statt dessen so ein bemüht gniedelnd-nerdiges Streberding, ähnlich Hot Chip, nur viel verkniffener – all das ist bei Pick A Piper auch enthalten. Eins geteilt durch Fuck Buttons, sozusagen.
GRÜSS GOAT

2013-10

MAN MAN - On Oni Pond (5)
Epitaph
Wenn "grundsolide" der erste Begriff ist, der einem beim Hören einer Platte einfällt, ist das normalerweise kein so gutes Zeichen, sondern signalisiert einen Mix aus Konsens, Langeweile, ziemlich wenig Drama oder Dissens. Statt dessen vielleicht gefälligen Rock, der halt auch nicht unbedingt scheiße ist. In diesem Fall allerdings .. ach was, nein: gerade in diesem Fall passt das wie Arsch auf Auge. Ein Beck's, bitte.
AMENYA PALMER

MINOR ALPS - Get There (4)
Ye Olde Records
Eigentlich muss man hierzu nicht viel mehr sagen als "Juliana Hatfield und Matthew Caws haben zusammen eine Platte gemacht, die auch fast wie Nada Surf klingt". Und ebenfalls wie Nada Surf wird "Get There" ankommen: nämlich bei US-LateNight-Shows (wo alles für subkulturell gehalten wird, was eine Gitarre bedienen kann) oder vielleicht auf einer kleinen Euro-Clubtour, nach der man sich wieder auflösen und den eigenen und eigentlichen Projekten zuwenden wird. Die halt – vom zweistimmigen Gesang mal abgesehen – echt genau so klingen.
POPP ULAR

SAINT RICH - Beyond The Drone (5)
Merge
Aha, das ist also dieses "Alternative"-Genre, von dem alle reden. Wenn man das Gefühl hat, dass die Musiker einen Song neu von vorn anfangen müssten, wenn sich live mal einer verspielt. Wo sich alle ein bisschen ernster nehmen als nötig, jedenfalls lang nicht unernst genug, dass man wirklich hörbar Spaß hätte an der eigenen Musik. Die Jeansjacken schwarz und die Zigaretten light – also im Prinzip schwiegermutterkompatibel harmlos. Aber die wilden Jahre sind halt auch echt mal vorbei, seit wir alle schon 30einhalb sind, wa? Den Spaß gibt's am Kicker-Tisch.
GNIEDEL WUTZ

SIMON FISHER TURNER - The Epic Of Everest (3)
Mute
Ein Soundtrack zur Verfilmung einer Expedition auf den Mount Everest, der vermutlich niemanden interessieren wird, der die dazugehörige Verfilmung der Expedition auf den Mount Everest nicht gesehen hat oder sich generell weniger für das Genre "Verfilmungen von Expeditionen auf den Mount Everest und deren Soundtracks" begeistern kann, oder zumindest für "70 Minuten Bläser-Instrumentals". Ich gehöre leider zu den Außenstehenden, und auch nach 70minütigem Nachdenken fällt mir niemand ein, dessen Hobbies so speziell sind. Trotz Cosey Fanni Tutti, die da laut Booklet auch irgendwas gastgeblasen haben soll. Verzeihung, ehrlich.
KRIS KARTER

SON LUX - Lanterns (7)
Joyful Noise
Wie nennt man noch gleich diese Art von Orchestral-Pop, die nicht eier-los ist? Also mal abgesehen von These New Puritans? Lanterns jedenfalls ist exzentrisch, mutig und dramatisch. Also vielleicht das, was VAST vor zig Jahren mal für das Rock-Genre war: Musik, die nicht nur 45 Minuten lang eine einzelne Idee breittritt, sondern wirklich komponiert wurde. Mit so einem Eigensinn, wie das sonst vielleicht noch Radiohead oder Of Montréal hinbekommen. Wenn überhaupt.
SANTA MARTINI

UNMAP - Pressures (7)
Sinnbus
"Best of both worlds" nennt man das ja normalerweise, wenn das Konzept von Carsharing erklärt wird, Pommes auf Pizza überbacken werden, oder man von einem Hetero-Pärchen auf einen Dreier eingeladen wird. Im Fall von Unmap ist's einerseits die Knackigkeit der Bodi-Bill-Beats, also diese wunderbar exakte Programmierung, ohne das Ganze musikalisch seelenlos klingen zu lassen, im gegenteil – und andererseits dazu die Gänsehaut-Stimme von Mariechen Danz. Wie bei der Geekpizza lässt dann zwar der Überraschungseffekt nach ein paar Bissen bzw. Songs deutlich nach (Hausaufgabe: Übertragung dieses Vergleichs auf den Bett-Dreier) – aber auf den Geschmack gekommen ist man trotzdem. Einmal Carsharing, immer bi.
MISTER PIGGY

VEX RUFFIN - Vex Ruffin (6)
Stones Throw
Eigenartige, kühle, unangenehme, unentschlossene Platte. Also von vornherein erstmal genau so super wie ein Suicide-Wannabe maximal sein kann, über die Länge von 12 Tracks dann aber doch ein klein wenig ideenlos – also repetitiv dann nicht im manischen, sondern im langweiligen Sinn. Und trotzdem an keiner Stelle unangemessen gewollt, eher Postpunk aus sich selbst heraus, referenzlose Abgefucktheit. Ergibt das Sinn? Egal.
KALEU DE SKOP

VV BROWN - Samson & Delilah (6)
Yoy Records
In einem Interview ließ Frau Brown verlauten, dieses Album sei "the closest you'll get to sitting in a room with me and kissing me". Seitdem träume ich von latent überproduzierten, schwer rhythmisch-perkussiven, aber auch ziemlich oberflächlichen Knutschorgien mit ihr alp. Nichts gegen Austausch oraler Körperflüssigkeiten prinzipiell: aber um mich rumzukriegen, darf man das gern ein bisschen subtiler anstellen. Samson & Delilah klingt aber eben auch mehr nach Kennenlernen in einer halbwegs entspannten Bar bei guten Drinks und nicht völlig stockbesoffenem gemeinsamem Heimweg – dann geht das mit dem Körperkontakt schon in Ordnung. Muss ja nicht immer alles düster und manisch sein.
TIFFY VON BÖDEFELD

WYMOND MILES - Cut Fourself Free (7)
Sacred Bones
Turn On The Bright Lights war eine dieser lebensverändernden Platten in Sachen musikalischer Sozalisation, und das erwähne ich auch nur, weil der zweite Track auf Cut Yourself Free ("Passion Plays") so sehr nach Oldschool-Interpol klingt, dass ich vor Freude flennen oder Gänsehaut bekommen wollte: abgeklärte Coolness von Musikern ohne Perspektive, aber mit gut sitzenden Anzügen. Der meiste Rest der Platte kann sich leider nicht so recht entscheiden zwischen einer einschläfernden Hommage an The Cure und eher wenig-sensationellem New Wave, wie es ihn eben schon viel zu oft gibt – andererseits & zugegebenermaßen sind das ja auch keine wirklich guten Gegenargumente.
ELTERN JOHN

2013-11

BLOOD ORANGE - Cupid Deluxe (5)
Domino
Wenn eine Platte im Jahr 2013 so klingt - also nicht nur nach warmen Synths, mit weichen Vocals und Saxophon-Breaks, sondern einem eben dieses vollständige Ibiza-Spätsommer-Gefühlssortiment reinknallt, bei dem sich bunte Sakkos mit hochgekrempelten Ärmeln an einer Strandbar unaufgeregt darum streiten, wer die fancieste Sonnenbrille trägt – dann kann man Genrebegriffe wie "balearic" eigentlich und endlich auch direkt aus dem Wortschatz streichen. Das hier ist mehr 80er als es die 80er selbst damals konsequent geschafft haben. Benötigt man im Jahr 2013 nur leider ungefähr so dringend wie ein Captain-Future-Remake.
TSCHILL TSCHALLOW

CUT / COPY - Free Your Mind (6)
Modular
Belanglosigkeit auf eine erstaunlich angenehme Art – mit "Free Your Mind" wirst du ungefähr so gut klarkommen, wie du Mitte der 90er mit Bilingual von den Pet Shop Boys klarkamst, oder erst kürzlich mit den letzten New-Order-Lebenszeichen. Also: musikalisch völlig einerlei, für sich genommen, aber das immerhin auf eine nicht komplett unoriginelle, sondern geradezu konsequente Art – raus aus den 80ern und rein in die ersten vorsichtigen Rave-Schrittchen. Inklusive Vocals und Samples aus jener Zeit, und inklusive furchtbarem Cover-Artwork. Wenn schon, denn schon.
NEUER ORDNER

DAT POLITICS - Powermoon (4)
Tigerbeat6
Ein Track, eine Idee, und das sechs Mal hintereinander in jeweils dreieinhalbminütigen "guckt mal, was ich kann!"-Häppchen, die alle nach 8bit-Electropop ohne Arsch in der Hose klingen. Das machen Boys Noize oder Gesaffelstein zwar inhaltlich ähnlich, aber taktisch besser – bei denen hat man zumindest nicht den Eindruck, als wäre das schon alles.
GRAMPA ALEX

I BREAK HORSES - Chiaroscuro (8)
Bella Union
Schweden-Klischee Dunkelheit, Nebel, Sehnsucht, Bars, Lichter der Großstadt, Elektronik, ätherische Vocals, Emo-Quatsch im Herz und dieser ganze Kram: du kennst das. Und es funktioniert eben, so ähnlich wie damals die erste Platte von The XX auch funktioniert hat, nämlich weil die Unaufdringlichkeit und Melancholie so exakt den ganzen Herzscheiß rüberbringt, den du dir nicht mehr eingestehen willst seit du als "erwachsen" giltst, zumindest rechnerisch. Der bescheuerte Bandname ist dann der "comic relief" in der Gleichung, kann die Großartigkeit des Albums aber zum Glück dann auch nicht mehr in die Knie zwingen.
PRUE FAITH

LONDON GRAMMAR - If You Want (7)
Metal & Dust Recordings
Wir hatten in der Rezensions-Textbaustein-Datenbank gerade alles rausgesucht, was jemals über Florence And The Machine geschrieben wurde. Um Redundanz zu vermeiden und halbwegs originell rüberzukommen in diesem Absatz hier, und um vielleicht sogar zur Abwechslung mal etwas positives zu schreiben. Als wir dann per Blick auf's Cover den Irrtum bemerkt haben, war die kurze Hype-Phase von London Grammar leider schon vorbei. Die ganze Welt kennt diese Platte längst, sagt das Internet, und das Internet weiß immer alles. Daraufhin verloren wir schlagartig die Lust an einer Rezension.
JAMIE XY

MENACE BEACH - Lowtalker (8)
Memphis Industries
Geh' zum Plattenschrank und hol' dir jeweils eine Platte von Dinosaur Jr., von den Raveonettes, den Breeders und eine von Jay Reatard. Wirf alle vier aus dem Fenster. Dann leg' diese 12" auf und freu' dich darüber, dass es noch Musik gibt, die so klingt wie alle vier vorher genannten zusammen, best of four worlds gewissermaßen, und die trotzdem originell und neu ist – nämlich in allen Belangen ein bisschen kaputter und unkalkulierter. Nach 6 Tracks in ungefähr 15 Minuten gehst dann du runter zur Straße und sammelst deine Platten wieder auf, falls du zu denen gehörst, die wirklich alles machen, was die bekloppten Typen vom VICE ihnen sagen.
DEEP KLAUS

PEGGY SUE - Choir Of Echoes (4)
Wichita Recordings
Ein Schwarzweiß-Foto mit 20 burlesque angezogenen 50er-Jahre-PinUp-Damen auf dem Cover, ebenfalls weiblicher Gesang im Duett zu immerhin ganz charmantem Retro-50s-Folk, der Name Peggy Sue – wenn dieses Ding hier nur ein kleines bisschen subversiver und abseitiger rüberkäme, könnte "Boyd Rice presents" darüber stehen und niemand würde sich wundern. Im hiesigen Paralleluniversum ist Choir of Echoes daür aber doch einen Tick zu harmlos und nett geraten.
SCORPIO EISING

SHEARWATER - Fellow Travellers (4)
Sub Pop
Herrjeh, bei tourbedingtem Lagerkoller gäbe es doch so viele Freizeit-Möglichkeiten. Spielkonsolenskills im Tourbus perfektionieren, Groupies ins Hotelzimmer mitnehmen, sogar die Welt ansehen wäre eine Option, notfalls auch Schokolade. Aber Songs der Bands covern, die einen immer mal wieder auf der Tour begleiten? Sollte man eigentlich nur dann tun, wenn man sich seiner Sache verdammt sicher ist – damit nicht 10 "naja-Versionen" dabei herauskommen, die alle zwar hübsch nach Shearwater, aber kaum noch nach irgendwas anderem und schon gar nicht mehr nach Punk oder Subversion oder irgendwas interessantem klingen. Aber was weiß ich denn schon.
SHEAR FOAHRN

2013-12

ANGEL OLSEN - Burn Your Fire For No Witness (8)
Jagjaguwar
Angel Olsen hat nicht nur einen fast perfekten Namen, sondern auch eine Stimme zum Niederknien, mit der sie ähnlich King Dude eine Abgefucktheit in ihrem Folk-Kram rüberbringt, wie das sonst nur vielleicht noch Nico geschafft hätte. Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob unter den 11 Tracks kein einziger Lovesong ist oder ob alle 11 als Lovesong durchgehen - und das ist ja mal mindestens das zweitbeste, was man über eine Platte sagen kann.
RAY ORBISON

BLANK REALM - Grassed Inn (4)
Fire Records
Erinnerst du dich an die Band aus deinem Abi-Jahrgang, die vermutlich nur Coverversionen, im Idealfall aber auch eigene Songs hinbekommen hatte und dabei so klang, als wäre "Garage" nicht ein Genre sondern eben wirklich nur die Bezeichnung des Proberaums? Die nicht "gut" sein wollte, sondern schrammeln und muckern, und wo "experimentell" noch bedeutete, dass man wirklich Experimente anstellte und nicht 12-minütige Instrumental-Intros aus einem gerade abstürzenden Ableton Live aufnahm? Ungefähr so klingen Blank Realm auf ihrem ungefähr sechsten Album. Immer noch.
BANE BRIS

CHEATAHS - Cheatahs (5)
Wichita Recordings
Ja, der Bandname könnte ein Porn-Starlet-Künstler(vor)name sein. Ja, die Bandinfo spricht von einem "Debüt" und ignoriert damit einfach die paar Tapes, 7inches, zwei EPs (UK) und das Album (US, bestehend aus den zwei UK-EPs), die's schon gibt. Ja, Alternative-Gitarrenrock mit einem Hauch Lo-Fi und Lyrics über die Schwierigkeit von Beziehungen sind nicht gerade das, worauf die Welt sehnsüchtig gewartet hat. Und: ja, sowohl Coverdesigner als auch Produzent der Platte waren vermutlich auf einer seltsamen Pilz-Gras-Mischung beim Einhalten ihrer Deadlines. Aber: ganz so scheiße ist die Platte dann eigentlich gar nicht.
ZAR TAN

FANTÔME - It All Makes Sense (2)
Snowhite
Fantôme besteht aus Hanin Elias (Atari Teenage Riot) und Marcel Zürcher (Die Krupps), und es ist unmöglich, das nicht zu erwähnen, denn das Album klingt exakt wie eine Platte, die zuerst von den Krupps aus den Neunzigern her-gebeamt und danach hier von Hanin Elias besungen wurde. Also konzeptuell furchtbar schon von vornherein, aber dass es in der Musik des "Power-Duos" (Zitat) dann auch noch unter anderem um "Gesellschaftskritik und Politik, (..) aber auch um private Momente und Liebe" (ebenfalls Zitat) geht, das .. ergibt dann auf eine ernüchternde Art in der Tat irgendwie Sinn, da haben die beiden schon recht.
EMPTY TÄT

GIRL WITH THE GUN - Ages (5)
Folk Wisdom / Interbang
Shoegaze ist mittlerweile zu einem Genre-Auffangbecken für alles musikalisch latent bekifft klingende geworden, von Noise bis Dreampop und von Aggro bis Schlaftablette. Trotz der Waffe im Namen verfolgen die drei Girls hier eher den Instagramfilter-Ansatz: also müde statt aufgekratzt, und nett statt bösartig. Das funktioniert stellenweise ("Love far", "Sad") leider überhaupt nicht und stellenweise ("At All") außerordentlich super. Letzteres reißt ersteres aber auch nicht gerade raus, über 37 Minuten. Das Gegenteil von fett ist halt doch fett gemeint.
DANGER PFEIF

LA FEMME - Psycho Tropical Berlin (3)
Disque Pointu
Wenn der Infotext einer Band diese gleich zweimal als "leichtfüßig" bezeichnet und mit "Unbedingt live erleben!" endet, ist das normalerweise kein gutes Zeichen für ein nicht gerade "live" erlebbares Album. Wenn dann auch noch 16 Tracks eigentlich nach einer Mischung aus "Cold Wave, Punk, Yéyé & Surf" klingen sollten, man bei mindestens 15 davon aber nur Stereo-Total- (anstatt Poni-Hoax-)Assoziationen hat, wird die Hoffnung auf jenes Liveerlebnis eher noch weiter gesenkt. Schließlich sieht man sich das Cover an und findet mit einem Schlag ganz Frankreich wieder sehr eigenartig. Eigentlich schade drum, die Mittelmeerstrände sollen ganz nett sein.
GOTT ZILLER

2014-01

DIE NERVEN - Fun (9)
Cargo
Laute, verkopfte, eigenwillige, unstrukturierte 37 Minuten, wie sie früher höchstens mal Tocotronic hinbekommen haben und das heute eigentlich auch nur noch Chuckamuck schaffen, beide aber mit einem halben Gramm weniger Fuck-Off-Egalheit als Die Nerven. Und: nichts gegen Tocotronic oder Chuckamuck. Im Ernst. Ich liebe Tocotronic und Chuckamuck. Aber wenn diese 37 lauten, verkopften, eigenwilligen, unstrukturierten Minuten hier nicht wenigstens in irgendeine kleine halbregionale Indiemusikgeschichte eingehen, fress' ich in 20 Jahren eine "Best Of Blumfeld". Prost.
JUST US JONAS

HUNDREDS - Aftermath (6)
Sinnbus
Wenn ein zweites Album im Prinzip klingt wie das erste, man aber heraushört, dass die Beteiligten alles daran nur noch viel richtiger machen wollten als beim ersten Mal – kommt da meistens etwas glattgefeiltes und latent ödes raus: Aftermath ist zwar mindestens so zart und filigran und feinfühlig wie das Debüt, aber halt ein paarmillionen Prozent weniger überraschend und dafür ein paarmillionen Prozent mehr gewollt. In Fachkreisen manchmal auch "Polarkreis18-Phänomen" genannt. Das kann man doof finden (und darauf warten, dass demnächst ein Auftritt bei "Schlag den Raab" angekündigt wird), – oder alternativ beim Hören einfach ignorieren und den Sound für "nett" halten. Mehr aber leider auch nicht, in beiden Richtungen.
HUND VON ERTE

DESSNER / GREENWOOD - St. Carolyn By The Sea / Suite From There Will Be Blood (6)
Deutsche Grammophon
Machen wir uns nichts vor: 90% der Anschaffungen dieser Platte werden von den Assoziationen zu The National (Bryce Dessner) oder Radiohead (Jonny Greenwood) getriggert, und die anderen 10% von "Deutsche Grammophon". Von der darauf enthaltenen "Vereinigung von Klassik und Rock", also einer Art Filmscore für Aufgeschlossene, respektive moderne Klassik für Menschen, die auch regelmäßig auf Vernissagen herumstehen, von dieser 45- (Dessner) bzw. 21- (Greenwood) minütig herumschwurbelnden Angestrengtheit also werden mindestens die erstgenannten 90% eher enttäuscht werden. Und die restlichen 10 interpretieren ja sowieso in alles Intellektualität rein, was nicht bei drei auf'm Baum ist.
SIN TECKST

FUTURE ISLANDS - Singles (4)
4AD
Sam Herring könnte Kinderhörbucher einsprechen, Baumarktprospekte vorlesen oder bei Reggae-Bands anheuern, es würde IMMER zum Niederknien großartig klingen. Und der Klang dieser Stimme war ja schon auf vorherigen drei Alben das beste Argumente für wirklich alles, was Future Islands betraf. Ebenjene Stimme ist jetzt vermutlich noch besser geworden, der Kontrast zum ganzen Rest also damit noch ärger – (so ließe sich das wenigstens erklären) – dass man sich auch endlich mal eingestehen kann: musikalisch ist das ja wirklich belanglosester Crap, was da von der Band nebenbei veranstaltet wird.
BORN SCHLIPPY

PERC - The Power & The Glory (6)
Perc Trax
Vielleicht muss man sich einfach mal davon verabschieden, "Techno" als Genre zu begreifen. Dann könnte eine Platte wie diese hier unvoreingenommen als dystopisch-wahnsinniges Lärm-Machwerk angehört werden, obwohl Techno draufsteht. Anstatt dabei Dancefloor-Kontext und Song, also House für Fortgeschrittene, zu erwarten. Eher als bizarrer, unordentlicher Gegenentwurf zu Boys-Noize-Gebratze oder Fuck-Buttons-Strukturalismus vielleicht. Als Punk, gewissermaßen. Ja, so könnte das funktionieren.
GLORIA BAUER

2014-03

SHIT ROBOT - We Got A Love (7)
DFA
DFA-Platten pluckern ja mittlerweile so wie BoysNoize-Releases bratzen – also gewissermaßen als Marken- und Erkennungszeichen, aber so haarscharf am Rande der angestrengten Wiederholungs- und Ideenlosigkeitsgefahr vorbei, dass man sich bei der Entdeckung von PetShopBoys-Parallelen regelrecht freut: "We Got A Love" ist mehr musikalische Kulissenschieberei geworden als HouseDisco-Kracher, mehr Anekdoten-Eintopf als Jahrhundertwerk, mehr Camp-Zurschaustellung als Fashionweek. Quasi dreizunull auf eine eher unaufgeregte Art. Das geht in Ordnung.
R2C3 D2PO

TIMBER TIMBRE - Hot Dreams (8)
Full Time Hobby
Dieses Album klingt zwar beim oberflächlichen Drüberskippen erstmal nach "balearic pop" und wird sich darüberhinaus vermutlich auch noch als Folk-Platte tarnen (und dementsprechend in den Regalen bzw. Kategorien bei sog. Plattenläden landen) – ist in Wirklichkeit aber ein eigenartiges und kryptisches Songwriter-Ding geworden, das vielleicht nur einen kleinen Schuss zu viel Sonnenlicht abbekommen hat. Also vielleicht eher ein noch nicht ganz ausgereiftes Scott-Walker-Demo. Von den angenehm abgefuckten Texten mal ganz abgesehen, und vom Witchcraft-Horrorgeschichten-Potential von Taylor Kirks Stimme sowieso: geradezu unheimlich amerikanisch, in a good way.
KATARRH KARLO

YOUNG KNIVES - Sick Octave (6)
Gadzook
Gerade, als du dachtest, Post Punk als Genrebezeichnung wäre so langsam auch endgültig durch, kommt das vierte Album der Young Knives vom Himmel gefallen. Mit wackeligem Synthie-Timing und einigermaßen exzentrischem Gesang plus Blechbläser-Samples, dabei trotzdem so britisch wie's gerade noch unkitschig geht und nur an ganz wenig Stellen raushörbar selbstverliebt – da lässt man auch fünfeinhalb-Minuten-Tracks ausnahmsweise noch als Post Punk durchgehen. Denen geht zwar irgendwann die Luft aus, aber Dreiminüter mit 1A-Songwriting sind ja auch noch ein paar dabei.
JUST US JONAS

2014-08

A WINGED VICTORY FOR THE SULLEN - Atomos (7)
Erased Tapes
Sehr gehrter Darren Aronofsky. Wir kennen uns noch nicht, mein Name ist Creo Xibalba, ich komme aus der Zukunft. Ich wurde von Ihnen ins Jahr 2014 zurückgeschickt, um Ihnen Atomos ans Herz zu legen, ein Album, das ungefähr so klingt wie der von Ihnen verwendete Soundtrack zu "The Fountain" (der übrigens ab ca. 2018 endlich zu späten Kultfilm-Ehren weltweit kommen wird, aber das darf ich eigentlich noch nicht verraten), nur noch viel angemessener für Ihren nächsten Film, von dem Sie jetzt auch noch nichts ahnen. Aber es wird ein sehr melancholischer, großer, eigenartiger, Zeitreisen-Film werden. Der erste nach "Primer", der in dieses typische Zeitreisen-Story-Kopfschmerz-Chaos ein bisschen Sinn und vor allem auch mal Seele hineinbringen wird – und für jene Stellen, mit der Seele und Herz, werden Sie die Musik dieser Künstler mit dem langen Namen verwenden. Sie werden schon sehen. Ach so, und: ich soll "Kartoffelsalat Bolognese" ausrichten, damit Sie mir glauben. Sie wüssten dann schon, was damit gemeint ist.
CREO XIBALBA

ADULT JAZZ - Gist Is (9)
Spare Thought
Wie im normalen Leben eigentlich auch: der One-Night-Stand sorgt für kurze Ablenkung per Optik und Affekt, aber das ordentliche Verknallen findet seltener, dafür viel interessanter statt. Die lang erwartete neue Platte vom Festival-Headliner des Jahres ist dann das, was einem ein paar Tage lang über den Frühsommer hilft, – aber der Zufallsfund im Plattenladen, alphabetisch einsortiert im Regal, nicht auf dem Aktions-Sonder-Stapel, der ist dann selten und manchmal das Ding, das einen beim Hören so sehr flasht, dass man sich hinsetzen und erstmal sammeln muss. Weil man's nicht versteht, aber unbedingt verstehen will. Weil man eine Ahnung hat, aber eben nur eine Ahnung, dass etwas Großartiges dahinterstecken könnte. Dieses Ding hier ist von der Sorte "nach dem 12. Anhören immer noch kryptisch, aber nach dem 50. wird sich der Himmel auftun", so präzise und beeindruckend und interessant und These New Puritans und Dirty Projectors und sinfonisch. Und das beste, was einem passieren kann, ist schließlich, dass man neugierig wird auf ein Album. Oder halt einen anderen Menschen. Ich bin verknallt und möchte diese Platte wirklich auf ein Date einladen. Nein, mehrere.
NAMA STAY

BALLET SCHOOL - The Dew Lasts An Hour (4)
Bella Union
Wenn man erst mal überwunden hat, dass ein Album im Jahr 2014 noch so sehr nach Madonna und Kim Wilde und Cocteau Twins klingen kann wie dieses, wenn man dieses ironische Grinsen dann aus dem Hirn gewischt hat und sich mal zusammenreißt, wenn man also den Punkt hinter sich lässt, an dem man das irgendwie charming und niedlich findet, und gerade anfangen möchte, bei Youtube noch ein paar Stunden länger musikalische Leichenschänderei zu betreiben, - dann fällt einem plötzlich wieder ein, wieso man die 80er ja scheiße findet, alle "Ronnys PopShow"- und "High Life"-Cassetten gern weiter auf dem elterlichen Dachboden verrotten können und dass so ein Romantisieren der eigenen Kindheit die Menschheit auch echt nicht weiterbringt. Und dann ist "The Dew Lasts An Hour" ja noch nicht mal ironisch gemeint.
GLORIUS E STEFAN

BENJAMIN BOOKER - Benjamin Booker (7)
Rough Trade
Hände hoch, wer erinnert sich noch an Two Gallants, diese beiden Jungs mit Gitarre und Drumset und (deswegen) zu großen Bühnen, die vor ein paar Jahren eigentlich Saddle Creek und die gesamte Country-Americana-Indie-Alt-Rock-Szene hätten umkrempeln müssen, wenn es Gerechtigkeit auf der Welt gegeben hätte? Benjamin Booker ist auch so ein Kandidat, nur eben 'ne halbe Portion im Vergleich zum besagten Duo. Dafür allerdings doppelt so Whiskey wie man's seiner Blutjungigkeit zutrauen würde, im Tom-Waits-Stimmbruch dann vermutlich spätestens mit 30. Den Zorn und die Abgefucktheit muss er noch ein wenig hochpegeln, das mit der Alternative-Weirdness bekommt er schon ganz gut hin. Und an der Sache mit der Gerechtigkeit arbeiten wir nach wie vor.
BLACK JACK WHITE

CAMERA - Remember I Was Carbon Dioxide (6)
Bureau B
Was sich bei CAMERA offenbar so tut im Lauf von zwei Jahren, also zwischen Debüt- und Nachfolge-Album: der Krautrock mutiert von positiv gemeinter "Guerilla"-Konnotation zu einem "Etikett", die Spontankonzerte in U-Bahnhöfen und auf Echo-Verleihungs-Herrenklos allerdings sorgen immer noch für ausreichend Credibility – jedenfalls, was die Selbstwahrnehmung im Begleitschreiben angeht. Klanglich ist das perkussive und manische der ersten Platte aber eben auch nur zu einem bekifften Seventies-Trip mit einem Schuss mehr Pink Floyd anstatt Dead Skeletons geworden: weniger Drums, dafür mehr Tralala-Orgel und ausgiebige Kiff-Intros. Oder wie der bekannte Zungenbrecher sagt: Rotkraut bleibt Brautkleid und Krautrock bleibt Krautrock. Dot Tumblr dot Com.
ZEH-OH ZWEI

GOAT - Commune (5)
Rocket Recordings
Kommen aus Skandinavien, nennen sich Goat und schreiben das in Schnörkelfraktur auf die Platte – machen aber, verrückt, gar keinen Kirchenanzündermetal! Knapp 40 Minuten lang durchgegniedelter Psychedelic (anderswo charmant "Afrokraut" genannt) der Sorte Sabbath Assembly wäre aber eben doch abendfüllender, wenn wenigstens eine eigenartige SciFi-Sekten-Botschaft drinstecken würde – oder zumindest irgendwas perkussiv-hypnotisch-repetitives, für gesellige Abende mit Kraut der Sorte Kraut. Aber so richtig entscheiden, ob man jetzt eher Animal Collective oder Neu! sein möchte, konnte sich dann offenbar keiner. Und die Kirchen stehen auch noch.
JEX THOTH

2014-09

ATTAQUE - On Ly You (5)
Bad Life
Wenn ihr zu denen gehört, die sich gelegentlich fragen, wofür der Mathe-Grundkurs damals denn nun eigentlich gut war, obwohl ihr doch eigentlich nur Instagram-Promi oder Club-Runner werden wolltet: beispielsweise zur Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Genauso wenig nämlich, wie Möchtegerntopmodels eine Chance oder ein Recht auf Karriere mit Wollen und Streben begründen sollten ("aber es ist mein absoluter Lebenstraum!"), also gewissermaßen genau wie man einen Führerschein nicht zwingend deswegen oder dafür erhält, nur weil man dringend von A nach B kommen möchte, - genauso wenig wie das also hinreichende Bedingungen für den jeweiligen Award sind, genauso sehr ist eine gewisse Notwendigkeit aber immerhin gegeben. Neudeutsch: nur Bock reicht nicht aus, aber ganz ohne Bock wird's auch nix. Und schon sind wir in der Beweisführung elegant beim Electro-House-Pop von Attaque angelangt, deren eigentliche Ausformulierung aber Hausaufgabe bleibt.
THUG LEIF

KIASMOS - Kiasmos (7)
Erased Tapes
In einer besseren oder wenigstens anderen Welt hätte es in den 90ern eben nicht fast nur Warehouse-Raves in gesichtslosen britischen Industriehallen gegeben, mit Pillen und Knicklichtern und Prolltrance, sondern auch das Pendant in Morgendämmerungen auf nebligen Waldlichtungen, bei dem alle Teilnehmer - ohne ihre Smartphones dabei zu haben - in maximaldichtem Nebel und einem permanenten Dämmerschlafzustand nett zueinander sind, Tee trinken und dabei bis zur Unkenntlichkeit verlangsamte Trentemöller-Platten hören. Oder eben Kiasmos. Aber es ist nicht zu spät. Gemeinsam können wir die Welt ver.. ach, egal.
ALAFUR ORNALDS

PEAKING LIGHTS - Cosmic Logic (3)
Weird World
Man muss sich das Genre "Dub Kraut" als eines vorstellen, in dem viel analoge Synthietechnik verwendet (aber dafür an Haarpflegeprodukten gespart) wird. Wenn das mit solch einer gewollten Zugänglichkeit (neudeutsch: Pop-Appeal) vermischt wird wie auf "Cosmic Logic", klingt das Ergebnis wie ein trauriger Demotape-Abklatsch der Sorte "My First over-ironisierter Heimorgelversuch". Aber immerhin schön bunt.
SON ERROR

PHILIP SELWAY - Weatherhouse (6)
Bella Union
Der "formerly known as the drummer of Radiohead"-Mann klingt auch auf seiner zweiten Soloplatte exakt wie jemand, der formerly known as the drummer of Radiohead ist. Und auch wenn nicht gleich alles, was überraschungslos 38 Minuten andauert, ein Konzeptalbum ist, könnte "Weatherhouse" als eines durchgehen: unspektakulär interessant auf eine harmlose Ü30-Art, gewissermaßen also "adult contemporary". Aber wenigstens nicht Dire Straits.
FRIED FINGERTIP

ZOLA JESUS - Taiga (4)
Mute
Ende der 80er warnte "This is your brain on drugs" mit weit hergeholten Bild-Analogien auf Plakaten immerhin anschaulich vor illegalen Substanzen. Die Druffi-Zielgruppe (also: Künstler) bemerkte aber ziemlich fix, dass die dargestellten "on drugs"-Varianten die interessanteren, inspirativeren, eigenartigeren waren. 25 Jahre später ist "Taiga" das Gegenteil dieser Darstellungen: gesund und brav und öde und kantenlos. This is your music without drugs.
TORA DORA

2014-10

2:54 - The Other I (5)
Bella Union
Bei aller gewollten Nebligkeit – also wenn man schon mystisch und lässig und verschroben und spirituell klingen möchte, wenn man dann einen auf School of Seven Bells mit mehr Egalheit macht, dabei klingt wie The Cure meets Zola Jesus, also eigentlich wie 90er-Gothpoprock ohne Arsch in der Hose – bei all diesem möchtegernmystischen Tralala besteht ja immer die Gefahr, dass das, was mühelos und nebenbei wirken soll, am Ende nullbockig und lapidar rüberkommt. Oder anders: The Other I wirkt, als wär's der Band ganz schön egal gewesen. Aber Gleichgültigkeit ist ja irgendwie auch 'ne Art von Nebel.
SAM ANTICS

DEPTFORD GOTH - Songs (7)
37 Adventures
Das Album mit einem der ungooglebarsten Titel aller Zeiten tut nicht weh, sondern krault dir eher permanent den Rücken – das aber immerhin angenehm unkitschig, obwohl es in den Läden unter R&B einsortiert werden wird. Trotz Blockflöte(nsample). Musik für verschlafene Sonntagvormittage der Sorte ohne Alkohol- oder Drogen-Kater – wenn du eher ziellos bei reddit rumhängst, oder zwei Stunden brauchst um dich zu entscheiden aufzustehen. Musik für draußen Herbst ungefährlich, wenn How To Dress Well zu gewollt wirkt und Antony Hegarty zu dramatisch. Friedlicher Pop, gewissermaßen.
SYNT ACHS

DORIAN CONCEPT - Joined Ends (5)
Ninja Tune
Als wir uns vor 30 Jahren die Nächte um die Ohren schlugen, um Programmcode zeilenweise und tippfehlerfluchend aus Zeitschriften in unsere Homecomputer abzutippen, welche dann noch mindestens eine weitere Nacht lang damit beschäftigt waren –unter anderem– sog. Mandelbrotmengen zu visualisieren ("Apfelmännchen zu zeichnen"), Pixel für Pixel, so dass wir am nächsten Morgen eine einerseits hübsche und andererseits irgendwie mysteriös mathematisch berechnete Grafik auf dem Bildschirm betrachten und bei allen beiden Elternteilen herumzeigen konnten, bevor wir den C64 dann irgendwann wieder abschalten mussten und alles weg war: da konnten wir noch nicht ahnen, damals, dass es im Jahr 2014 mit Musik manchmal so ähnlich sein würde. Total hübsch und bestimmt auch irgendwie mit einer ganz konkreten Absicht entstanden, aber nach erstem Bestaunen spätestens zwei Tage später wieder vergessen: nicht nur Apfelmännchen, auch Joined Ends.
PHONE TISCH

2014-11

CARLOS CIPA - All Your Life You Walk (8)
Denovali
Melancholie ist laut Lexikon der Psychologie unter anderem eine "Neigung zur Schwermut oder schwärmerischen Idealismus" und damit, gewollt oder ungewollt von den Lexikon-Onkels (und depressive Verstimmungen hin oder her), eine knallhart romantische Angelegenheit. Das zweite Album des Münchener Klaviergotts Carlos Cipa erzeugt ebenfalls eine starke Neigung zu Schwermut, und beim Hören gerät man in schwärmerischen Idealismus, allein schon wegen des nahezu perfekten Timings der Veröffentlichung: nebelgrau und durchseelt wie so ein gedoptes Novemberwetter mit Luxusweltschmerz klimpert's da exakt eine Stunde lang aus den Standlautsprechern, dass es eine wahre Freude wäre, wenn's eine Freude wäre. Romantik und so. Du weißt schon.
FL AN ÖHR

DYN - Dyn (6)
8MM MUSIK
Für eine Psychedelic-Platte klingt das hier zwar alles zu unbekifft und für Garage-Sound fehlen die bratzigen Gitarren und ein bisschen Tempo – aber exakt in der Mitte war offenbar noch Platz für rund 40 Minuten Besoffenheits-LoFi, die sich vermutlich einen Dreck um ihre Genrezuordnung scheren, aber mit unserer Bezeichnung als ZwoFi jetzt leben müssen, denn die Band ist ein Duo und wir waren schon immer für furchtbare Wortspiele berüchtigt. Spätestens nach dem dritten Schnaps.
MILLI META

MARTIN KOHLSTEDT - Nacht (6)
Ganz egal wieviel Absicht da in der Semantik steckt: deutliche Pluspunkte dafür, dass auf die Platte "Tag" erstmal die "Tag Remixes" folgten, bevor jetzt mit "Nacht" das Komplementäralbum nachgeliefert wird. Ein paar wenige Minuspunkte für's Nichteinhalten der Erwartungshaltung aber – "Nacht" klingt trotz ausschließlich schwerfällig gespieltem Piano gar nicht so sehr klischeedunkeldüster, wie es der Titel andeutet. Aber vielleicht sind ja "Mitternacht" und "tiefe Nacht" auch noch in Planung.
PEE ANIS

R. SEILIOG - In Hz (7)
Caroline
Erinnerst du dich an CAMERA, diese drei Wahnsinnigen, die den Krautrock neu erfinden wollten, diese Mischung aus DEAD SKELETONS und Mauerparkmusikanten? Das gleiche in elektronisch macht R. SEILIOG, der eigenartigste Künstlername der Woche: also gewissermaßen ANIMAL COLLECTIVE in organisch oder eben Dub-Psych-Laptop-Krempel – als hätte da jemand seinen LSD-Trip mal ordentlich durchmodernisieren wollen, mit Glitches und Synth und Mathematik und bunt, aber eben auch wieder nicht so sehr, dass es völlig bekloppt wirkt.
KARI BUHUU

RECONDITE - Iffy (5)
Innervisions
Wie nennt man das noch gleich, wenn eine Platte aus viel guten Ideen besteht, aus knackigen Sounds, überraschenden Breaks, aus 'ner Menge originell verarbeiteter Einflüsse und mindestens so viel Erwartungshaltung, aber ohne Dramaturgie und Komposition und Idee auskommt und man beim Hören die ganze Zeit darauf wartet, dass es jetzt-aber-endlich-gleich losgeht? Genau: schade.
ZAHM FEE

2014-12

CUMMI FLU - Z (8)
Albumlabel
Repetitives Gefrickel und Geplucker, wie es in den 1990ern unter den Nichtgenrebegriffen "Electronica" oder "Indietronic" verbucht wurde, nur ein paar Milligram organischer vielleicht, mit vermutlich kalkulierter Dissonanz im Subtext und einer Menge ganz vorsichtig heraushörbarem Nebenderspur-Klingklang, gerade so als würde der Künstler sich die Kapuze des Oversize-Schluffi-Pullovers noch ein wenig tiefer ins Gesicht ziehen, um maximalkonzentriert weiterkiffen zu können. Ganz schön toll.
FLUMMI Q

DIAGRAMS - Chromatics (3)
Fulltime Hobby
Wenn "nett" die "kleine Schwester" von "scheiße" ist, dann ist Chromatics in seiner penetrant harmlosen Über-Nettigkeit sowas wie der wenige Minuten später geborene Zwilling. Pop as fuck, und das nicht auf die gute Art, sondern auf die belanglose. In Klang gegossenes Einerlei, das wirklich niemandem wehtut, auch wenn es sich noch so sehr anstrengen würde. Will's aber sowieso nicht. Musik für Kuschelnachmittage mit Jasmintee und Erdbeerplätzchen, an denen schon Caribou oder Hot Chip zu verstörend wirken. Aber sowas ist ja hin und wieder auch mal ganz .. äh .. nett.
GARMON SIR FUNKEL

HANNI EL KHATIB - Moonlight (7)
Innovative Leisure
Wer Wolfmother zu drecksauig oder The Black Keys zu dickeiig findet, sich also irgendwie für moderner und besserfrisiert hält als das, was so an Harley-Davidson-Wochenenden bierselig als Rockmusik bezeichnet wird – oder wem Bass Drum Of Death dann wiederum zu laut und zu arg ist – der dürfte bei Hanni El Khatib sein persönliches 60s-Garage-Blues-Rock-Paradies finden. Ist ja andererseits auch alles nur eine Sache der Definition.
FRAU ERBACHSKELLER

VIET CONG - Viet Cong (9)
Jagjaguwar
Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag' für abgefuckten Lo-Fi-Post-Punk, der so klingt, als wäre er eben nicht absichtlich darauf hingetrimmt worden wie so ein öder Dirty-Beaches-Auftritt, sondern völlig naheliegend und unkalkuliert einfach so geworden, weil es gar nicht anders möglich war. Harsch und dreckig wie eine Studenten-WG ohne Stamm-Grasdealer oder Mietkostenzuschuss, dafür mit Stress und frieren und Wut im Kopf. Also: für einen Sound wie auf diesem Viet-Cong-Album. Und wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag' meinetwegen nach Bologna.
PHONIC YOUTH

2015-02

A BAND OF CRICKETS - Inter Larvas (5)
behind the black curtain records
Um Grillen geht's, behauptet der Bandname – mein Gesamtwissen über Grillen beschränkt sich aber leider auf die Tatsachen, dass man dazu meistens Steaks verwendet, und dass das Balzgeräusch der Viecher "zirpen" genannt wird. Die Beschreibung einer Platte, die wie ein zielloser Alptraumcocktail aus Björk, Nightmares On Wax, Bodi Bill, James Blake, Steel-Drum-Samples und stellenweise auch 90er-Billig-EBM klingt, werde ich ab sofort also liebend gern mit "zirpen" abkürzen. Anwendungsbeispiel: dieses Album zirpt wie Sau.
GEORGE FOREMAN

PARRA FOR CUVA - Majouré (5)
Lenient Tales Recordings
Das wirklich unfassbar furchtbare, penetrant sülzige, überall anbiedernd hochgelobte Covermachwerk "Wicked Games", auch hierzulande in den Playlisten und Rotationen verschiedenster vormals cooler und jetzt jeglichen letzten Reststolz aufgebender Radiosender zu finden, dieses Ding jedenfalls ist auf "Majouré" nicht enthalten. Wem auch immer sei Dank. Der Rest, also gewissermaßen alles, besteht aus erstaunlich spätsommerig lässig geratenen, geradezu harmlosen, aber eben auf die unaufdringliche Art harmlosen, geradezu netten Tracks. Trotzdem zwei Ehrenpunkte Abzug für Wicked Games. Einfach so.
CHRISTIAN ISAAK

POND - Man It Feels Like Space Again (8)
caroline
Hey, Tame Impala. Wenn ihr dachtet, einige von euch könnten sich mal einfach unter dem Namen POND in ganz lockerem Zusammenhang neu verbünden, dabei ein bisschen so klingen wie die Ohrwurm-Anfänge von MGMT oder den Flaming Lips, ein wenig David "LSD" Bowie vielleicht, oder, nun ja, fast alles von Tame Impala eben – wenn ihr also dachtet, ihr könntet, indem ihr eine wirklich astreinst tolle und schwerst beeindruckende Psychedelic-Platte abliefert, wie man sie so seit Jahren nicht mehr auf dem Tisch hatte, .. – also, nochmal: wenn ihr dachtet, ihr könntet auf diese Weise einfach am Ende des dritten Tracks ("Holding Out For You") die "November Rain"-Hookline verstecken und keiner merkt's, dann habt ihr die Rechnung aber wirklich ohne die Topchecker vom VICE gemacht.
AXL ROSÉ

RONE - Creatures (8)
InFiné
In vermutlich bester Vorahnung haben sowohl das Label als auch alle uns bekannten Mailorder "Creatures" in der Ecke bei Boards Of Canada, Fuck Buttons oder Breton einsortiert, denn das dritte Album von RONE ist schon jetzt die wahrscheinlich schlechteste Black-Metal-Platte aller Zeiten (von ein paar neueren Burzum-Machwerken vielleicht mal abgesehen). Alles richtig gemacht.
RHETO RICK

THE NOTWIST - The Messier Objects (7)
Alien Transistor
Mark Manson schrieb neulich, die Kunst des "not giving a fuck" bestünde ja gar nicht darin, gleichgültig und desinteressiert zu werden, sondern die individuell zur Verfügung stehenden Fucks einfach besser zu verteilen und zu dosieren. The Messier Objects klingt – gerade weil es kein Konzept-Album sein möchte, sondern nur eine Sammlung bereits existierender Schnipsel, Fragmente, Soundtracks und Ideen – auf eine so entspannte, egale, lässige, unabsichtliche Art nach "not giving a fuck", auf eine leise und pluckernde und angenehm unauffällige: die bei The Notwist zur Verfügung stehenden Fucks dürfen liebend gern in potentielle Radio-Rotation und Indiemädchendigitronics-Platten investiert werden, wenn nebenbei und zufällig dann solche wunderbaren Xylophon-Electronica-Schwurbelfetzen abfallen wie dieser hier.
WEGEN HEIM

2015-04

FYFE - Control (6)
Believe Rec.
Paul Dixon hat "enttäuschende Erfahrung mit der Plattenindustrie" gemacht, heißt es, sich also vermutlich deswegen für sein Electrofolkpop-Albumdebüt einen neues Pseudonym verpasst, bevor er … mit der Plattenindustrie einen Vertrag unterschrieben hat. Das entspricht zwar fast exakt dem Konzept, mit dem wir hier auch seit jeher bei unseren Reviews arbeiten, reicht aber trotz des Hipsterherbsthits "Solace" echt nicht für die "Album des Monats"-Auszeichnung. Wegen Durchschaubarkeit einerseits und mehrerer Saxophonsamples andererseits. Es gibt echt Grenzen.
DICK PAULSON

SLOW STEVE - Steps (5)
Morr Music
Wenn's bratzt und knallt, ist Boys Noize zuständig. Wenn's irgendwie nach Haus Arafna klingt, dann Galakthorrö. Bei irgendwie abstraktem Vernissage-Techno ruft man bei raster-noton an, und wenn's irgendwie elektronisch frickelt und so halbfragil in der Gegend herumeiert ohne großartig zu stören, wird's bei Morr Music veröffentlicht. So war's, so ist's, so wird's immer sein. Auch diesmal. "Steps" wirkt wie eine B-Seiten-Kollektion von Air, Chromatics oder Sebastien Tellier und ist laut Künstler-Selbstdarstellung "dedicated to old analog synthesizers". Das Staunen hält sich in Grenzen. Schließlich ist jetzt auch bald wieder Sommer.
REIGN BOW

ÓLAFUR ARNALDS & ALICE SARA OTT - The Chopin Project (8)
Deutsche Grammophon
Ólafur Arnalds findet zeitgenössische Chopin-Studioaufnahmen viel zu sauber, schnappt sich also die Pianistin Alice Sara Ott und nimmt mit ihr ein Best Of Frédéric (Chopin-Noctures, -Sonaten und -Préludes zusammen mit ein paar Arnalds-Fillern) neu auf – im Ergebnis weniger klinisch kalt als anderswo, auf nicht ganz perfekt gestimmtem Kneipenklavier, mit Quietschen und Knarzen und Wetter und Atem und Unsauberkeitsgeräusch, in gewisser Weise also natürlicher und menschlicher. Was Emo-Kram & Seele anstatt Sterilität & Kalkül angeht geradezu der Nils Frahm der Herzen. So weit, so unaufdringlich. Man mag sich dann zwar über Details streiten vor allem über den Chopin-Aspekt der ganzen Sache (ob beispielsweise das Regentropfen-Prélude nicht ein paar wenige bpm zu hektisch heruntergeklimpert wurde), und auch ob das Ding dann eher Interpretation oder Inszenierung geworden ist (Spoiler Alert: letzteres!) – andererseits geht's bei diesem Projekt nicht um Maßstäbe wie bei einer klassischen Klassik-Platte, sondern um den Punk im Geiste. "Das Lied schläft in der Maschine", bzw. "Ein Klavier, ein Klavier! Mutter, wir danken dir!", und so. Für Chopin am Ende also eher unrevolutionär, für Meta-Diskurs und Hipster-Neoklassik und rein musikalisch dann aber eben doch ganz schön arg super.
MAGS RICHTER

UNKNOWN MORTAL ORCHESTRA - Multi-Love (7)
Jagjaguwar
"Groovy groovy jazzy funky pounce bounce dance." - Du kennst das.
HANS KLARIN

WE ARE THE CITY - Violent (5)
Sinnbus
Gerade, als ich zu einem Traktakt (geradezu einer Kampfschrift) ausholen wollte über den Sinn der Hierzulande-Veröffentlichung eines schon vor zwei Jahren anderswo auf der Welt erschienenen Albums, also über "Grenzen" in einer mittlerweile ja doch eher digitalisiert tickenden Welt und über Rechte an und Lizenzierungen von Kunstwerken, über Beknacktheit und Rückstand also selbst von kleineren sogenanntwerdenwollenden "Indie"-Labels und das Ausbleiben zeitgemäßer Distributionskonzepte (die ich natürlich auch noch nicht zur Hand habe, aber wenigstens ein paar Absätze weit darüber klugscheissen wollen würde), – fiel mir auf, dass in genau dieser digitalisiert tickenden Welt doch bestimmt vor zwei Jahren schon irgendwo und überall etwas über "Violent" geschrieben wurde, let me google that for you, ah, hier: experimenteller Electropop aus Kanada, Radiohead meets Born Ruffians, ganz nett, aber insgesamt leider ein bisschen eierlos. Bitte, gern geschehen.
KÖNICH DAVID

2015-09

DIE NERVEN - Out (8)
Glitterhouse
Vor rund zwei Jahren haben Die Nerven mir eine ihrer handschriftlichen Setlists geschenkt und mich in der Widmung darauf "Kartoffel" genannt, und sehr viel mehr kann man über diese Band eigentlich gar nicht sagen. Aber hinweisen muss man eben doch wieder auf ihre Lässigkeit, die im Gegensatz zu so vielen anderen eben kein Label zur Rock-Subgenre-Tarnung, sondern aus einer geradezu angeborenen (Deutschlehrer, in Deckung!) Gelassenheit entstanden ist: die lässigste Platte des Jahres heißt "Out", weil sie sich einen Scheiss um alles kümmert und ebendrum zu praktisch allem im Leben passt. Als Soundtrack für erstrebenswerte Zeiten. "Wir treiben langsam in den Wahnsinn". Wir Kartoffeln.
IAN STEIN

JOHN LEMKE - Nomad Frequencies (6)
Denovali
Nebel und Zuckerwatte sehen sich ja nur auf den ersten Blick ähnlich. Das eine ist ungesund für den Blutzuckerspiegel, das andere für die Stimmung, und wären wir Rhetoriküberprofis, würden wir als Pointe jetzt eine Blutzucker-Nebel-Brücke bauen. Beide also (die dicke Luft und der Zucker am Stiel) auf Dauer eher ungesund, im Kombination aber eben hinreichend originell: ungefähr so, als würde Nils Frahm sich mal an 80s-Saxophon-Samples versuchen – geht normalerweise schief, also praktisch immer, außer manchmal, und Nomad Frequencies ist ein manchmal. (Nach dem zehnten Hören bekommt man halt Bauchschmerzen, aber das ist bei Kohlehydraten ja bekannt.)
GIORGIO CORRODER

JULIA HOLTER - Have You In My Wilderness (3)
Domino
Ein neuer und vorher ungeahnter Level an Stullizität ist hier gleich doppelt erreicht: nicht nur klingt Julia Holter mittlerweile leider viel mehr nach Carly Rae Jepsen als nach Chelsea Wolfe, auch der Beipackzettel untersagt strikt (strikt!) mittlerweile die "Benutzung des Tonträgers" auf "Geräten mit Internetanschluss". Vermutlich also beides in direktem Zusammenhang: das Internet als solches würde sich totlachen über die auf der Platte enthaltene Seichtheit, und wo das hinführt, wenn sich das Internet irgendwann tot-lacht, können wir ja auch höchstens ahnen. Win/win.
JOHANNA OLDSOM

U3000 - Wir haben euch belogen (2)
Freudenhaus Recordings
Kann echt keiner behaupten, er hätte sich betrogen gefühlt, angesichts des Albumtitels. Was eben im ersten Track ("Niemals") noch so klingt, als würde es gern Spillsbury werden (oder irgendeine der nennenswert besseren Lado-Bands von vor gut 10 Jahren), falls es irgendwann mal groß wird, entpuppt sich dann doch als Schnipo Schranke in noch gewollter, bemühter, unorigineller, anstrengender. Gewissermaßen eine unangenehm pubertierende Variante von Jochen Distelmeyer. Ja, Post-Blumfeld. Muss man ja inklusive Größenwahn auch erst mal hinbekommen.
KURZ KRÖMER