ich verbrachte ungewöhnlich lang damit, ihren blick einzuordnen. wahrscheinlich mehrere sekunden. eine erstaunliche mischung aus "hilf mir!" (auf eine latent panische art) und "na, hallo!" (auf eine latent sympathische art) blickte mich da an - ich hoffte auf einen größeren anteil an letzterem, mußte aber zugeben, nachdem ich fertig-eingeordnet hatte, daß die wahrscheinlichkeit zu ersterem überwog. ein paar sekunden vorher war sie aufgetaucht und hatte sich mir schräg gegenüber an den tisch gesetzt, jetzt schaute sie mich mit diesem - zugegeben - doch leicht unsicher wirkenden blick an, und weitere zwei sekunden später tauchte aus der menschenmenge neben der tanzfläche der offensichtliche grund dafür auf.
der grund trug einen viel zu großen ohrring (jedenfalls fiel mir das zuerst auf), außerdem eine schlecht sitzende (weil viel zu weite) jeans und irgendein bedrucktes sweatshirt, bei dem er die ärmel nach oben geschoben hatte. beide. der grund hatte in der rechten hand ein ungefähr halb-gefülltes bierglas, am dazugehörigen arm einen mittlerweile überwucherten und schlecht erkennbaren tattoo-rest und auf dem kopf ein dunkles strickmützchen. außerdem war er besoffen, was spätestens in dem moment offensichtlich wurde, als er versuchte, sich neben ihr lässig hinzustellen, was über die zwischenschritte aufbauen und aufplustern in einem anlehnen endete. an den pfeiler neben ihm.
sie hatte noch nichts gesagt. ich versuchte, mit meinem antwortblick etwas in der art von "alles klar, verstehe!" auszulächeln, bildete mir ein zurückgeblinzeltes "danke!!" ein und wartete ab. sie war jünger als ich. ein wenig, und ich sah es auch nur in ihren augen. wahrscheinlich hatte sie ein kind, eine tochter, die heute mal bei ihrer oma übernachten durfte, so daß mama - wie maximal alle zwei bis drei monate - sich endlich mal wieder einen netten abend machen konnte. alleinerziehend, aber "tough", erwachsen geworden durch erfahrung, am leben nicht kaputtgegangen sondern gewachsen, nachdem ihr stecher sie während der schwangerschaft sitzengelassen hatte. die für ein unterwegs-sein im nachtleben -so provinziell dieses auch manchmal sein mochte- hin und wieder notwendige souveränität aufgrund mangelnder übungsgelegenheiten ein bißchen verlernt, aber dame genug, um von typen wie dem besoffenen ohrringträger entsprechendes zu halten und primär angewidert, aber auch ein klein wenig ängstlich, darauf zu reagieren. ausdruck von stolz im klassischen -weil ursprünglichen- sinn, dadurch eindruck auf mich.
aber gesagt hatte sie noch nichts. der grund startete einen weiteren annäherungsversuch und hielt sein bierglas in ihre richtung, während er grunzlaute von sich gab, die ungefähr wie "na? na??" klangen. ich begann mich zu schämen. ich hatte mit dem grunztyp nichts zu tun, ich konnte auch nichts für seine seltsame mitteilsamkeit, aber ich konnte nur schwer der versuchung widerstehen, mich für ihn, für diesen club, für meine geschlechtsgenossen, für die anmache, für die anmache auf diesem niveau, ganz generell für dumme menschen, für die ganze situation oder für den versauten abend bei ihr zu entschuldigen. allerdings hielt ich auch diese überlegung für zu lang, zu kompliziert und auf eine seltsame art auch für viel zu offensichtlich, um sie für die ersten worte an sie zu verschwenden. ich packte also alles in einen blick und schickte ihn quer über den tisch in ihre richtung. sie lächelte.
die nächsten 10 minuten verbrachte sie damit, angestrengt auf die tanzfläche zu sehen, in meine richtung zu lächeln, an ihrem glas zu nippen und mit ihren augen zu seufzen. der grund mühte sich währenddessen ab, ihre aufmerksamkeit wiederzuerlangen, und merkte es offenbar nicht (oder wollte es nicht wahrhaben), daß er schon vor stunden verloren hatte - schiefgelegter kopf, besoffen-gequältes anlächeln, verstecktes anstarren, zuprosten, das komplette debilenprogramm eben. ich verbrachte die 10 minuten damit, ihre unausgesprochenen hilferufe mit empfangsbestätigungen zurückzublinzeln, mir dabei siebenhundert fragen zu stellen (aber keine auszusprechen) und mit dem dritten auge immer den suffkopp im blickfeld (und diese glitzernde atmosphäre zwischen ihr und mir bei-) zu behalten.
sie sah verzweifelt aus. nicht desperate oder aufgelöst, nur ein klein wenig verzweifelt. wahrscheinlich dachte sie schon den ganzen abend darüber nach, wie gerade sie es verdient hatte, von so etwas angemacht zu werden. welches element, welche kleinigkeit an ihr auf solch einen menschen anziehend gewirkt hatte, ob sie nicht allein schon wegen yin und yang und irgendeinem verfickten kosmischen gleichgewicht es verdient gehabt hätte, wenigstens mit einem netten kerl zu flirten, und wieso sie sich von so einer kleinigkeit so sehr runterziehen läßt, nach all dem, was sie bisher in ihrem leben schon geschafft hat.
während der säufer kurz zum klo verschwunden war, verabschiedete sie sich von mir mit einem nochmaligen blick, der irgend etwas zwischen "danke", "seufz" und "ach, - .." ausdrückte, für den rest des abends auf die tanzfläche. mister suffkopp, nach seiner rückkehr sichtlich verwirrt (die worte "wo isse hin?" standen in überdimensional großen buchstaben in der alkoholgefüllten gedankenblase über seinem kopf geschrieben), kapitulierte, ging zurück an die bar und soff sich, nehme ich an, irgendwann nach hause. sie tanzte immer noch, und ich bilde mir ein, sie lächelte dabei jetzt irgendwie anders.
später, bei annem licht nach dem letzten rausschmeißer, traf ich sie an der garderobe wieder. und gerade bevor ich die unglaublich dämlichen worte "alles in ordnung?" aussprechen konnte, beantwortete sie sie schon mit "ich komm' klar. danke." - mit einer fast, aber eben nur fast unmerklichen anhebung ihrer stimmlage während der letzten silbe, mit der exakt millisekundengenau richtigen atempausendauer zwischen "klar" und "danke", und mit einem der ehrlichsten und beeindruckendsten lächeln, die ich seit langer zeit gesehen habe.
vielleicht überleg' ich mir ja mal, wie ich sie anspreche, wenn ich sie nochmal treffen sollte. der erste satz ist ja bekanntlich immer der schwierigste.