[anmerkung: ich habe die hannoversche allgemeine nicht selbst vorliegen, sondern den folgenden text nur per mail bekommen, kann also nicht 100pro oder mit einem link verifizieren, daß er so in den letzten tagen dort abgedruckt wurde. andererseits habe ich auch keinen anlaß zu glauben, daß er "nicht echt" sein sollte, gehe also einfach mal, gutgläubig wie ich bin, davon aus, daß ihn jemand aus der haz abgetippt hat. bei berechtigten einwänden o.dgl. bitte mail an mich.]
mein freund, der clown
die pluralistische gesellschaft braucht moralische gleichgültigkeit: dieter bohlen und die kunst der unter-haltung.
von karl-ludwig baader, hannoversche allgemeine
veröffentlicht 18.10.2002, 19:43 uhr
am bundesarbeitsgericht erfurt musste eine türkische frau das recht erstreiten, bei ihrer arbeit als verkäuferin ein kopftuch tragen zu dürfen - sie berief sich dabei auf religiöse gründe. ihr arbeitgeber hatte sie entlassen, weil er befürchtete, dass sich ihr züchtiger aufzug geschäftsschädigend auswirken könnte - wie alles, was gegen die guten sitten verstößt. zur gleichen zeit erklettert - unter dröhnender medialer begleitmusik - ein büchlein die bestsellerlisten, das von einem herausragenden ereignis handelt: dem penisbruch des unterhaltungsmusikers dieter bohlen.
weiß man, welches verhalten in einer gesellschaft tatsächlich belohnt und welches sanktioniert wird, findet man sich auch in ihrer normenskala zurecht. wir erkennen dabei jedenfalls die herrschenden, wenn auch nicht immer die gepredigten werte. eine zweite orientierung bietet die peinlichkeitsprobe. welches verhalten geniert die anderen am meisten? in zeiten wie diesen seinen arbeitsplatz zu riskieren, um aus religiösen gründen ein auch noch unmodisches kopftuch zu tragen, scheint dann doch vielen arg übertrieben und deshalb auch etwas peinlich. dass man dergleichen unannehmlichkeiten aus glaubensgründen auf sich nimmt, erregt in unseren säkularen gesellschaften zudem ungläubiges staunen. sich gleich zwei herrschenden maximen (modisch aufzutreten und darauf zu achten, wo der materielle vorteil ist) zu widersetzen ist nicht nur irgendwie retro, sondern halsstarrig, ja bizarr.
normal und ganz im einklang mit der herrschenden vernunft ist es dagegen, mit erzählungen vom besagten penisbruch (die nun auch per hörbuch zugänglich sind) seinen kontostand zu heben. niemand reckt hier den moralischen zeigefinger, hier zeigt der zeigefinger des exhibitionisten selbstbewusst auf sich selbst. natürlich haben wir es hier mit einem ganz normalen mediencoup zu tun. die eigentliche autorin des büchleins, dessen verkauf in allen talkshows gepuscht wird, ist die ehefrau des chefredakteurs der "bild"-zeitung, die wiederum das werk durch einen vorabdruck erst zum nationalen klatschthema machte. und die dann die albernheit bis zum aufgeblasenen "jetzt rede ich" der von bohlen veralberten damen (naddel, verona usw.) weiterdreht.
das publikum zeigt sich nicht im geringsten geniert, sondern schlicht amüsiert, reagiert nicht mit scham ob der auf offener bühne breitgetretenen intimitäten, sondern nur mit neugierde. gänzlich verkehrt wäre es, dem publikum dabei naivität zu unterstellen oder es sich als verführten und manipulierten haufen vorzustellen. es hat kein brett vor dem kopf, es spitzelt nur gelegentlich mal gerne durch einen (auch sächsisch gewickelten) maschendrahtzaun. da sieht die welt doch gleich karierter und damit harmlos aus.
das publikum nimmt zuweilen gerne eine unter-haltung ein, will sich bewusst unter seinem niveau amüsieren und prominente als deppen vorgeführt bekommen (die freilich die eigentlichen gewinner des spektakels sind). das ist keineswegs ein neues phänomen. formen der öffentlich zelebrierten narretei, des karnevals etwa, gab es zu fast allen zeiten. da ziehen dann sonst auf würdiges auftreten achtende herren schon mal ein komisches hütchen auf und lassen sich beim gemeinschaftlichen schunkeln und grölen beobachten. in kollektivem einverständnis werden die beschwerlichen verhaltensnormen des alltags lautstark ausgetrieben, das peinliche, vor dem sich sonst so viele fürchten, wird geradezu herbeizitiert, um dann das lächerliche gemeinsam zu ver- und wegzulachen.
neu ist etwas anderes: diese ausbrüche aus der normalität waren ja stark ritualisiert, auf eine bestimmte zeit beschränkt, für jeden als ausnahme von der unbestritten geltenden moralischen regel erkennbar. solche klaren grenzen zwischen "normal" und "anormal" werden nun zunehmend verwischt. die populären massenmedien, vor allem das fernsehen, vermarkten immer ungehemmter das private, erobern bereiche des intimen. hemmschwellen werden gesenkt, und pornostars werden zu gesellschaftlich anerkannten promis. kaum einer fürchtet, dass deshalb die gesellschaft in ihrem bestand erschüttert wird. im gegenteil: die moderne pluralistische gesellschaft braucht eine gewisse moralische gleichgültigkeit - da wird ein harmloser narr wie bohlen, der etwas frivol mit ohnehin durchlässigen schamgrenzen spielt, eher als entspannungsfaktor wahrgenommen. in einer gesellschaft, die komplizierter wird, undurchsichtig erscheint und deshalb angst produziert, sehnt man sich nach harmlosigkeit - da wirken gläserne menschen wie bohlen, die nichts zu verbergen scheinen, irgendwie beruhigend. beunruhigender sind jene, die sich bedecken und strengen regeln unterwerfen. instinktiv und nicht zu unrecht fürchtet man sich in dieser gesellschaft vor dem unbedingten, das gerade eine religiös fundierte moral kennzeichnet. da kann sich schnell spott in angst - und die in aggressivität verwandeln. und kuriose kleidungsvorschriften, eben noch als zeichen der rückständigkeit gedeutet, erscheinen auf einmal als symbole kommender gefahren, als vorboten von fanatismus und kulturkampf.
wir brauchen clowns wie bohlen, um uns der harmlosigkeit unserer moralischen situation zu versichern. aber ein tiefes unbehagen lässt sich so nicht vertreiben: reicht unsere normenausstattung, wenn wirtschaftlich und vielleicht militärisch schwere zeiten kommen? sind wir genug vorbereitet, wenn unser moralisches fundament auf so schwankenden bohlen ruht? hoffen wir auf wenig seegang.